Eine Satellitenaufnahme zeigt die Lichtverschmutzung über Städten
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Lichtverschmutzung

Zu viel Licht als Gefahr für Ozeane

Der Einsatz von nächtlichem Kunstlicht steigt weltweit an – auch an den Küsten. Die Auswirkungen auf Meereslebewesen könnten weitreichend sein. Denn Miesmuscheln filtern das Wasser und erfüllen somit gleich eine ganze Reihe wichtiger ökologischer Funktionen. Studien legen nahe, dass sie ihrer Aufgabe vor allem im Dunkeln nachkommen.

Aktuelle Satellitendaten zeigen, dass das ungenutzte, helle Licht von Gebäuden, Gewerbeimmobilien und öffentlicher Beleuchtung jährlich an Reichweite und Intensität um 6 bis 8 Prozent zunimmt. Nächtliches Kunstlicht tritt mittlerweile an mehr als 22 Prozent aller Küsten der Erde auf. Ein Forscherteam aus England, Norwegen und Israel hat in einem globalen Atlas die Meeresgebiete kartiert, die am stärksten von Lichtverschmutzung betroffen sind.

Die im Dezember 2021 im Wissenschaftsjournal „Elementa: Science of the Anthropocene“ veröffentlichte Studie zeigt, dass in einer Tiefe von einem Meter bis zu 1,9 Millionen Quadratkilometer der Küstengewässer – das ist in etwa die Fläche von Mexiko – biologisch einflussreichen Mengen von nächtlichem Kunstlicht ausgesetzt sind.

Nachtlicht an Küsten

Betroffen sind vor allem Regionen mit umfangreicher Offshore-Infrastruktur wie Bohrinseln oder Windparks, etwa am Persischen Golf und in der Nordsee. Besonders in den oberen 200 Metern des Ozeans werden das Leben und viele biochemische Prozesse vom Licht und seiner spektralen Zusammensetzung bestimmt, sagt Tim Smyth, Hauptautor der Studie und Ozeanograph an der Plymouth University.

Eine NASA-Aufnahme zeigt signifikante, durch Lichtverschmutzung verursachte, Veränderungen in der Nordsee
NASA Earth Observatory/Joshua Stevens; Smith T.J. (Montage)
Die Auswirkungen von nächtlichem Kunstlicht in der Nordsee im April, dargestellt als kritischer Tiefenparameter

Die Meeresökologin Emily Fobert ist Mitglied des australischen Forschungsnetzwerks NERAL (Network for Ecological Research on Artificial Light), das zu den Auswirkungen von Lichtverschmutzung auf die Meeresumwelt forscht: „Das Leben im Meer ist stark auf die natürlichen Tages-, Mond- und jahreszeitlichen Lichtzyklen abgestimmt.“ Lichtverschmutzung habe das Potenzial, viele Aspekte der Ökologie und Physiologie des Meereslebens erheblich zu stören.

Fobert hat untersucht, wie sich nächtliches Kunstlicht auf die Fortpflanzung von Korallenfischen auswirkt. Ihre Experimente haben gezeigt, dass nächtliches Kunstlicht einen wichtigen Reiz für das Schlüpfen der Fische hemmen könnte.

LED-Trend verschärft Problematik

Erforscht wird die Dynamik unter anderem in einem Labor in Lenga, einem chilenischen Fischerdorf etwa 15 Kilometer südlich der Stadt Concepcion. Rund 100 Miesmuscheln der Art Mytilus chilensis haben die Wissenschaftler Dario Dirks und Javier Vera-Duarte in der Bucht gesammelt. Die Miesmuschel stellt eine Schlüsselspezies für marine Ökosysteme dar und bietet vielen Arten Nahrung und Schutz. Der Wissenschaftler Dirks erklärt: „Mögliche Auswirkungen könnten zu einer Veränderung des Nahrungsnetzes und von Lebensgemeinschaften führen.“

Muschelbank
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Miesmuscheln bilden riesige Muschelbänke und haben eine wichtige ökologische Funktion in den Meeren

Um zu untersuchen, wie das nächtliche Kunstlicht das Verhalten der Muscheln beeinflusst, werden die Muscheln in ihren Aquarien unterschiedlichen Lichtregimen durch LED-Lampen ausgesetzt. Die LED-Lampen weisen dabei ein kurzwelliges Wellenlängenspektrum auf, das häufig in der Straßenbeleuchtung zum Einsatz kommt.

Der weltweite LED-Trend in den letzten zehn Jahren hat Experten zufolge das Problem der Lichtverschmutzung verschärft. Das liegt daran, dass LEDs kurzwelliges (blaues) Licht emittieren, dadurch kann der Schlaf-wach-Rhythmus von Menschen und vielen Wildtieren gestört werden. Das ist auch relevant, wenn man die Auswirkungen auf die Meeresumwelt erforscht, da blaues Licht tiefer in das Wasser eindringt.

Miesmuscheln als Turbofilter

Die Laborexperimente mit den Miesmuscheln werden im Rahmen eines internationalen Forschungs- und Ausbildungsprogramms des Geomar Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel durchgeführt. Geforscht wird über einen Zeitraum von sechs Monaten in sieben Küstenregionen in Finnland, Japan, Malaysia, Spanien, Chile, Island und Kap Verde.

Die Gruppe der Miesmuscheln, die aus verschiedenen Arten besteht, ist in fast allen Meeren zu Hause, und die Tiere filtern Algen, Plankton und Schwebstoffe, wodurch sie für klareres Meerwasser sorgen. Koordiniert wird das Projekt vom Meeresökologen Mark Lenz vom Geomar. Er sagt im Gespräch mit ORF.at: „Das gesamte Wasservolumen des Wattenmeers wird alle zwei Wochen von den Muscheln filtriert, das ist eine enorme Leistung.“

Wie effektiv die Muscheln als Wasserfilter sein können, zeigen bisherige Labor- und Feldstudien. 2018 haben Forscher vom Institut für Küstensysteme am Helmholtz-Zentrum Hereon untersucht, welchen Effekt die Filteraktivität auf die südliche Nordsee hat. Die Studie zeigt, dass die Muscheln durch das Filtern die Algenjahresproduktion, also die aus CO2 durch Algen aufgebaute Biomasse, im Schnitt um etwa zehn Prozent verringern konnten. Besonders deutlich (bis zu 40 Prozent) war der Effekt an den Küsten.

Muscheln erhöhen Artenvielfalt

Die Dunkelheit biete Miesmuscheln mehr Schutz vor Fressfeinden wie Seesternen und Krabben, sagt Lenz: „Das nächtliche Kunstlicht könnte dazu führen, dass die Muscheln eher geschlossen bleiben. Den Muscheln bliebe dann weniger Zeit für die Nahrungsaufnahme, auf längere Sicht könnte das Populationen beeinflussen, Ökosysteme könnten sich verändern.“

Miesmuscheln bieten aber nicht nur als Wasserfilter Potenzial, sie können auch die Artenvielfalt in Küstengewässern erhöhen, wie Untersuchungen aus England zeigen. Die Meeresökologin Emma Sheehan von der Plymouth University untersucht seit 2013 die ökologischen Auswirkungen von Miesmuscheln auf der Muschelfarm Offshore Shellfish vor der Küste von Devon. Sheehan und ihr Team konnten beobachten, dass die Muscheln auch dazu beigetragen haben, den degradierten Meeresboden wiederherzustellen.

Muschelfarm
Emma Sheehan
Britische Forscher haben herausgefunden, dass Miesmuscheln die Artenvielfalt erhöhen können

Miesmuscheln heften sich an alle festen Strukturen, die sie im Wasser finden können – im Falle der Muschelfarm an vier 220 Meter lange Seile an Leinen. Unter den Seilen haben sich ganze „Muscheltrauben“ gebildet, die anderen Meeresorganismen einen Lebensraum bieten. „Wir haben begonnen, Hummer- und Krabbenpopulationen zu beobachten, die vor dem Einsetzen der Muschelseile nicht vorhanden waren“, sagt Sheehan im Gespräch mit ORF.at.

Die Forscherin glaubt, dass die Kultivierung von Miesmuscheln in Zukunft auch dazu beitragen könnte, Lebensräume und Artenvielfalt wiederherzustellen, die durch Umweltverschmutzung und schädliche Fischereipraktiken zerstört wurden.

Mehr Forschung gefragt

Die Ozeane von heute sind einer Reihe von menschengemachten Stressfaktoren ausgesetzt. Die Erwärmung, Überfischung und Verschmutzung durch Müll und Lärm beeinflussen das Leben im Meer. Meeresökologe Lenz: „Wir beobachten, dass sich Ökosysteme und ihre Diversität verändern. Die Ursachen sind komplex und nicht immer eindeutig. Es geht darum, ein großes Puzzle zusammenzubauen und in Experimenten herauszufinden, wie einzelne Stressfaktoren auf Ökosysteme wirken.“

Da die Küstenstädte weiterwachsen, befürchten Forscher, dass die Lichtverschmutzung steigen wird. Berechnungen zufolge könnten bis 2060 mehr als eine Milliarde Menschen in Küstengebieten leben, was etwa einem Fünftel der heutigen Weltbevölkerung entsprechen würde. Mit den Experimenten an den Miesmuscheln wolle man dazu beitragen, so Lenz, die Auswirkungen der Lichtverschmutzung als potenziellen weiteren Stressfaktor für Küstenökosysteme besser zu verstehen.