Junge Frau mit Streetstyle-Kleidung
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Mehr ist mehr

Loblied auf den Stilbruch

Hüfthosen, Kunstpelztaschen, sichtbare Tangas und Plastikschmuck: Geht es nach der Gen Z, dann hat Minimalismus endgültig ausgedient. Die unter Y2K bekannte schrille Mode der Nullerjahre dominiert TikTok, Laufstege und Modemagazine zunehmend. Bunt, laut und willkürlich mögen es aber längst nicht nur die Jüngsten: Das „Time“-Magazine sieht überhaupt das „Zeitalter des schlechten Geschmacks“ angebrochen.

„Mehr ist mehr“ und Bunt das neue Beige – so ließe sich der Stil der tonangebenden Generation Z zusammenfassen. Ein Blick auf TikTok, aber auch auf die Instagram-Feeds von Modeikonen wie Bella Hadid, Wisdom Kaye und Harry Styles offenbart nämlich, dass Farben, Muster, Stoffe und Schnitte 2022 spielerisch miteinander kombiniert werden. Je mehr Stilbrüche, desto besser.

Hadid, die für modische Experimente bekannt ist, zeigte sich unter anderem in einer Hüfthose mit rotem „Tourist vs. Purist“-Print, einem kettenartigen Top von Louis Vuitton, blauen Pumps und einem Pelzhut in Pink. Der laut „Vogue“ bestgekleidete Mann TikToks, Kaye, kombinierte jüngst ein gelbes Netztop mit roter Lederjacke, türkiser Schlaghose und Sneakers. Fast legendär sind auch die Looks von Sänger Harry Styles, der Fans und Fashionistas mit Nagellack, Federboa und Karoanzug begeistert.

Maximalismus a la TikTok

Was vor einiger Zeit als Trend begonnen hat, ist inzwischen ein Lifestylephänomen: Auf TikTok hat sich unter den Hashtags „#Maximalist“ und „#Maximalism“ ein eigenes Subgenre an Maximalismusmode und -interieur formiert. Teils werden in sozialen Netzwerken auch die Beschreibungen „Clutter Core“ für überladenen Dekor und „Weird Girl Aesthetic“ für „seltsam gekleidete Mädchen“ verwendet.

Die TikTokerin Sara Camposcarone, die sich als „nachhaltige Maximalistin“ deklariert, zählt mit ihren Outfitclips rund 400.000 Abonnentinnen und Abonnenten. In ihren Videos gibt sie knackige Stylingtipps zum Thema Maximalismus. „Ihr kennt das Zitat von Coco Chanel, ‚Bevor du das Haus verlässt, entferne ein Accessoire‘?“, so Camposcarone. „Na ja, ich füge eines hinzu – oder ein paar“, erklärte die TikTokerin, die auf Second-Hand-Mode setzt. Freilich beschränkt sich der maximal bunte, maximal auffällige Stil nicht nur auf weiblich gelesene Personen.

„Minimalismus ist auf dem Weg raus und Maximalismus auf dem Weg rein“, bringt die YouTuberin Mina Le, die in ihren Videos regelmäßig Internet- und Modetrends historisch aufarbeitet, die Entwicklung der letzten Jahre auf den Punkt. Le sieht die Ursprünge des allgegenwärtigen Hypes um maximal auffallende Kleidung im Tokioter Harajuku-Bezirk begründet, der ob der dort aufkeimenden, ausgefallenen Jugendmode Ende des 20. Jahrhunderts zum wichtigsten Modezentrum Japans wurde.

Eine junge Frau blickt im Harajuku-Bezirk der japanischen Hauptstadt Tokio auf ihr Smartphone
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Hauptsache extravagant: Der Tokioter Harajuku-Bezirk gilt als Japans Modezentrum

Schrille Mode eint Generationen

Überhaupt ist die Allgegenwärtigkeit maximalistischer Mode – genauso wie ausgelassene Partynächte und der anhaltende Reiseboom – in Zeiten vieler Krisen symbolhaft für die Sehnsucht nach einem unbeschwerten Leben. Das gilt für alle Altersgruppen: Ein schriller Kleidungsstil bleibt dem „Guardian“ zufolge nämlich nicht nur den jüngsten Modeaficionados und -aficionadas vorbehalten.

„Werde mit jedem Jahrzehnt lauter“, lautet der Aufruf der britischen Zeitschrift. Die Botschaft? Rigide soll die Mode für über 50-Jährige nicht mehr sein. Als Galionsfiguren eines extravaganten Modegeschmacks nennt der „Guardian“ unter anderen die Designerin Miuccia Prada (73), Model Kristen McMenamy (57) und Modeikone Iris Apfel (100).

Die US-amerikanische Innenarchitektin Iris Apfel
APA/AFP/Getty Images/Noam Galai
Die 100-jährige Modeikone Iris Apfel wird für ihre bunten Outfits gefeiert

„Time“ sieht „Zeitalter des schlechten Geschmacks“

So manches Medienhaus scheint sich mit dem modischen Potpourri aber schwer zu tun – zumindest auf den ersten Blick: „Das Ende von gutem Geschmack“, titelte die „Financial Times“ etwa kürzlich. „Schlechter Geschmack ist zurück“, hieß es in der britischen „Times“. „Willkommen im Zeitalter des schonungslos schlechten Geschmacks“, befand das „Time“-Magazin.

Plötzlich sei alles „größer, bunter, lauter, obszöner“, schreibt „Time“-Journalistin Judy Berman mit Verweis auf schrille Modetrends, Reality-TV-Shows wie „Selling Sunset“ und Zungenkussbilder von Promipaaren wie Megan Fox und Machine Gun Kelly oder auch Kourtney Kardashian und Travis Barker. Es gehe um viel mehr als nur „coole Teens“ – es handle sich um einen „kulturellen Moment“, so Berman.

Schauspielerin Megan Fox und Musiker Machine Gun Kelly
Reuters/Mario Anzuoni
Die öffentlichkeitswirksame Beziehung von Megan Fox und Machine Gun Kelly sorgte im vergangenen Jahr für Furore

„Der 20-jährige Nostalgiezyklus, der Klimawandelnihilismus, die Informationsflut, der Überfluss an Inhalten der Streaming-Ära und unser kollektives Long Covid der Seele gipfeln in einer Flutwelle der Geschmacklosigkeit“, schreibt sie. Gut ist ihr zufolge, was zurückhaltend und minimalistisch ist. Obszön und maximalistisch sind – im Umkehrschluss – schlecht. Berman räumt aber auch ein, dass „guter Geschmack“ schwer definierbar sei. Einzigartig sei jedenfalls, dass „das kulturelle Stigma“, das schlechtem Geschmack in der Vergangenheit anhaftete, dieser Tage verschwunden sei.

Warum „schlecht“ gut ist

Freilich ist Mode immer eine Frage des persönlichen Geschmacks. Die Standards dessen, was gemeinhin als modisch gilt, ändern sich ständig – genauso die tonangebenden Institutionen. Neben Modemagazinen und Luxuskonzernen sind das heutzutage eben auch Influencer. Trends erscheinen im digitalen Zeitalter mit seiner Vielfalt an unterschiedlichen Ästhetiken ohnehin zunehmend schwerer festzumachen.

Und so kommt es eben, dass 2022 Elemente aus unterschiedlichsten modischen Epochen miteinander koexistieren. Sei es der Minirock der 60er, die Schlaghose der 70er, Neonfarben der 80er, Crop Tops der 90er oder sichtbare Tangas der Nullerjahre. Alles geht, und „schlecht“ ist irgendwie auch gut.

Shawn Grain Carter, Professor am Fashion Institute of Technology in New York, sagte dazu in der „Financial Times“: „Menschen wollen Spaß, sie wollen flüchten, sie wollen Fantasie, sie wollen Frivolität.“ Es gehe nicht um Form oder Funktion, es gehe nun um Freude und darum, „den eigenen Moment“ zu schaffen.