Flugzeug vor der Abschiebung auf Militärbasis in Salisbury
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Trotz EGMR-Stopps

London will weiter nach Ruanda abschieben

Der erste geplante Abschiebeflug von Großbritannien nach Ruanda mit Asylsuchenden verschiedener Nationalitäten ist in letzter Minute gerichtlich gestoppt worden. Die Entscheidung kam Dienstagabend, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg mit einer seltenen Intervention die Pläne der britischen Regierung durchkreuzt hatte. Trotz der folgenreichen Niederlage vor Gericht will die konservative britische Regierung an ihrem umstrittenen Plan festhalten.

„Wir lassen uns nicht davon abschrecken, das Richtige zu tun und die Grenzen unserer Nation zu schützen“, sagte Innenministerin Priti Patel am Dienstagabend. Man arbeite bereits daran, den nächsten Flug vorzubereiten, ergänzte Patel.

„Ich bin enttäuscht, dass Klagen und Rechtsstreitigkeiten in letzter Minute dafür gesorgt haben, dass der heutige Flug nicht abheben konnte“, sagte die Innenministerin. Es sei sehr überraschend, dass sich der EGMR eingeschaltet habe, nachdem britische Gerichte zuvor anders entschieden hätten. Der EGMR hatte zuvor angeordnet, dass einer der betroffenen Asylwerber nicht ausgeflogen werden dürfe. Vielmehr müsse zunächst eine Frist von drei Wochen nach dem Abschluss des Rechtsweges in Großbritannien verstreichen.

Der britische Innenministerin Priti Patel
Reuters/Jean Bizimana
Die britische Innenministerin Priti Patel nach der Unterzeichnung des „Ruanda-Plans“ im April in Ruanda

Urteil soll angefochten werden

Die britische Regierung will juristisch gegen das EGMR-Urteil vorgehen. „Ich bin sicher, dass wir das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anfechten werden, denn britische Richter haben vorher entschieden, dass die Flüge abheben können“, sagte Arbeitsministerin Therese Coffey am Mittwoch bei Sky News. Sie sei „sehr zuversichtlich“, dass kommende Flüge nach Ruanda stattfinden würden.

Auch Ruanda will an dem umstrittenen Asylabkommen festhalten. „Wir lassen uns von diesen Entwicklungen nicht abschrecken“, sagte Regierungssprecherin Yolande Makolo der Nachrichtenagentur AFP am Mittwoch. „Ruanda ist nach wie vor fest entschlossen, diese Partnerschaft zu verwirklichen.“ Die Regierung sei bereit, die Migranten aufzunehmen und „ihnen Sicherheit und Chancen in unserem Land zu bieten“.

Urteil löste Kettenreaktion aus

Von britischen Gerichten gab es für den Flug zwar grundsätzlich grünes Licht, allerdings waren viele Einzelklagen erfolgreich, weshalb die Zahl der für Dienstagabend geplanten Passagiere in den Tagen zuvor immer kleiner wurde. In den Stunden vor dem geplanten Abflug sorgte die außergewöhnliche Intervention des EGMR dann dafür, dass die Zahl der Ausreisenden schließlich auf null sank und der Flug komplett gestrichen wurde.

Die Entscheidung des Straßburger Gerichts löste gewissermaßen eine Kettenreaktion aus: Die verbleibenden Betroffenen konnten sich auf die Entscheidung berufen und auch ihre eigene Ausreise zunächst erfolgreich verhindern. Innerhalb einer Stunde sei der Plan für den ersten Ruanda-Flug „wie ein Kartenhaus“ in sich zusammengefallen, kommentierte der BBC-Korrespondent Dominic Casciani die Vorgänge.

Demonstration in London
AP/Alastair Grant
Proteste gegen die Abschiebungen nach Ruanda am Montag in London

Auch für Großbritannien zuständig

Der EGMR gehört zum Europarat und ist damit auch für Großbritannien zuständig. Das Land hatte mit einem 1998 verabschiedeten Gesetz die Europäische Menschenrechtskonvention in das britische Recht übernommen. Da die Konvention sowie der in Straßburg ansässige Gerichtshof nicht zur EU gehören, bestehen diese Verpflichtungen unabhängig vom Brexit fort.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg
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Der EGMR in Straßburg

„Ruanda-Pakt“ laut Londons Vorstellung

London hatte mit dem für den späten Dienstagabend geplanten Flug seinen umstrittenen „Ruanda-Pakt“ einläuten wollen, mit dem die konservative Regierung weitere Schutzsuchende von der Einreise ins Vereinigte Königreich abschrecken will.

Die Vereinbarung sieht vor, dass Schutzsuchende, die illegal nach Großbritannien gelangt sind, unabhängig von ihrer Nationalität oder Herkunft in das ostafrikanische Land gebracht werden und dort gegen Zahlungen der britischen Regierung die Möglichkeit für einen Asylantrag erhalten. Auch wenn sie dort als Flüchtlinge anerkannt werden, soll es in keinem Fall eine Rückkehr nach Großbritannien geben.

Asylzentrum in Ruanda
AP
Ein Asylzentrum in Ruanda

Von „Rechtsbruch“ bis „gefährlicher Präzedenzfall“

Die Vereinten Nationen, politische Gegner, Wohlfahrtsverbände, hochrangige Geistliche und viele andere Organisationen sehen darin einen Bruch internationalen Rechts und einen gefährlichen Präzedenzfall. Sie zeigten sich entsetzt über das Vorhaben.

Die Regierung von Premierminister Boris Johnson will mit dem Verfahren nach eigenen Angaben gegen Schleuserbanden vorgehen und unerwünschte Einreisen über den Ärmelkanal unattraktiv machen. Nach Johnsons Plänen erhält Ruanda anfangs 120 Millionen Pfund (etwa 144 Mio. Euro) für die Zusammenarbeit. Vergangenes Jahr kamen mehr als 28.000 Geflüchtete über den Ärmelkanal nach Großbritannien.