Premierminister Boris Johnson
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Ministerrücktritte

Premier Johnson gerät gehörig ins Wanken

Aus Protest gegen die Amtsführung des britischen Premierministers Boris Johnson haben Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid am Dienstag ihren Rücktritt eingereicht. Auch ein Staatssekretär nahm den Hut. Sie alle zogen die Konsequenzen aus einer Reihe von Skandalen innerhalb der Regierung und der Konservativen Partei. Für Johnson wird es eng.

Der Premier habe trotz aller Kritik keinen Kurswandel eingeleitet, betonte Javid in seinem am Abend veröffentlichten Rücktrittsschreiben. „Mir ist klar, dass sich diese Situation unter Ihrer Führung nicht ändern wird.“ Sunak schrieb, sein Ansatz und Johnsons seien „zu unterschiedlich“. Die Öffentlichkeit erwarte „zu Recht, dass die Regierung ordentlich, kompetent und seriös geführt wird“, schrieb Sunak. „Ich glaube, dass diese Standards es wert sind, für sie zu kämpfen, und deshalb trete ich zurück.“

Auch der Staatssekretär im Familienministerium, Will Quince, kehrte Johnson den Rücken. Er fühle sich von Johnsons Büro falsch informiert über den Umgang des Premiers mit dem jüngsten Fall von Belästigung durch einen Tory-Abgeordneten. Ebenso quittierte der Generalstaatsanwalt für England und Wales, Alex Chalk, seinen Dienst, genauso wie der für Standards an Schulen zuständige Robin Walker.

Zwar versicherten umgehend zahlreiche andere Kabinettsmitglieder wie Vizepremier und Justizminister Dominic Raab oder Außenministerin Liz Truss dem Premier ihre Unterstützung. Auch hat Johnson bereits mehrere Skandale überlebt, doch die Stimmung innerhalb seiner Konservativen Partei ist am Boden. Der Premier müsse zurücktreten, sagte ein Kabinettsmitglied dem Sender Sky News.

Rasche Neubesetzung

Bereits wenige Stunden nach den Rücktritten besetzte Johnson die Ministerposten neu. Er ernannte am späten Abend den bisherigen Bildungsstaatssekretär Nadhim Zahawi als neuen Finanzminister. Seinen bisherigen Stabschef Steve Barclay machte der Premierminister zum Gesundheitsminister. Zahawi stellte sich bereits Mittwochfrüh hinter Johnson. Dieser sei integer und „entschlossen zu liefern“. „Man macht diesen Job nicht, um ein einfaches Leben zu haben.“ Zahawi gilt selbst als möglicher Nachfolger Johnsons, dementiert aktuelle Ambitionen aber.

Gesundheitsminister Sajid Javid
Reuters/Peter Nicholls
Gesundheitsminister Javid erklärte, er könne nicht mehr mit gutem Gewissen in der Regierung dienen

„Pathologischer Lügner“

Die Opposition nahm die neue Eskalation dankbar an. „Nach all dem Schmutz, den Skandalen und dem Versagen steht fest, dass diese Regierung jetzt zusammenbricht“, sagte Labour-Parteichef Keir Starmer. Der Oppositionsführer rief weitere Kabinettsmitglieder auf, mit einem Rücktritt ein Zeichen gegen den „pathologischen Lügner“ Johnson zu setzen.

Direkter Anlass für das Londoner Politbeben ist Johnsons Verhalten im jüngsten Skandal um sexuelle Belästigung durch ein führendes Fraktionsmitglied seiner Tory-Partei. Dass sich der Premierminister kurz vor den Rücktritten in der BBC entschuldigte und einräumte, die Berufung des Abgeordneten Chris Pincher zum Vize-Whip sei ein Fehler gewesen, änderte nichts mehr an den Rücktritten – oder war für die beiden Minister sogar der letzte Tropfen.

Whip begrapschte betrunken Männer

Die Whips – auf Deutsch etwa „Einpeitscher“ – sollen für Fraktionsdisziplin sorgen. Pincher war vorige Woche zurückgetreten, nachdem Medien berichtet hatten, dass er schwer betrunken zwei Männer begrapscht habe.

Die Regierung wurde von der Entwicklung überrollt. Dabei lief die Reaktion wie so oft bei Johnson. Zunächst legte der Premier nahe, dass der Fall mit Pinchers Rücktritt abgeschlossen sei. Als der Protest lauter wurde, suspendierte die Tory-Fraktion den Abgeordneten doch. Schließlich berichteten Medien über ältere, ähnliche Vorwürfe, von denen Johnson gewusst habe. Das stritt dessen Sprecher zunächst ab – um am Dienstag dann doch einzuräumen, der Premier sei bereits 2019 über Anschuldigungen gegen seinen konservativen Parteifreund informiert worden. Er habe das nur vergessen gehabt.

Finanzminister Rishi Sunak
Reuters/John Sibley
Sunak hatte Johnson noch während des Party-Skandals öffentlich unterstützt – damit ist es nun vorbei

Gesundheitsminister Javid schrieb nun, er habe das Vertrauen in den Regierungschef verloren. Unter Johnsons Führung würden die Torys weder als wertegeleitet angesehen, noch dienten sie dem nationalen Interesse. Auch nach dem parteiinternen Misstrauensvotum, das Johnson kürzlich knapp gewann, habe der Premier keinen Kurswandel eingeleitet. Finanzminister Sunak betonte, er sei immer loyal zu Johnson gewesen – das sei nun nicht mehr möglich. Auch der ehemalige Brexit-Minister David Frost, dem Ambitionen auf Johnsons Amt nachgesagt werden, rief zum Sturz des Premiers auf.

Die Regierungskrise kommt zur Unzeit. Großbritannien befindet sich angesichts der immens gestiegenen Lebenshaltungskosten in einer schweren Krise. Die Inflation ist so hoch wie seit rund 40 Jahren nicht mehr. Am Mittwoch senkt die Regierung die Kosten für die Sozialversicherung für Millionen Menschen mit kleineren Einkommen – Johnson hoffte damit auf einen Befreiungsschlag.

„Partygate“ überstanden, doch es wird eng

Zudem hatte der Premier soeben erst einen Skandal überstanden, bei dem ihn viele Beobachter schon am Ende gewähnt hatten: die „Partygate“-Affäre um illegale Lockdown-Feiern in der Downing Street. Wegen der Teilnahme an einer der Partys hatte der Premier persönlich eine Geldstrafe zahlen müssen. Er blieb entgegen den Erwartungen auch innerparteilicher Kritiker dennoch im Amt. Dabei half ihm nach Ansicht von Experten auch sein deutliches Eintreten für die Ukraine im Krieg gegen Russland. Nach den Parteiregeln darf es nun ein Jahr lang nicht zu einer weiteren Abstimmung kommen.

Dennoch könnte Johnson nach den Rücktritten von Sunak und Javid aus dem Amt getrieben werden. Mehrere Tory-Abgeordnete sowie konservative Medien, darunter die „Times“, forderten den Regierungschef auf, sein Amt aufzugeben. Es gilt als wahrscheinlich, dass Johnsons parteiinterne Kritiker ansonsten die Parteiregeln ändern werden, um den Premier mit einem weiteren Misstrauensvotum abzuwählen.

Hearing im Parlament

Zunächst steht aber schon am Mittwoch eine Herausforderung für Johnson an. Planmäßig muss sich Johnson da einem Liaison Committee stellen, einem Parlamentsausschuss. Die Befragung ist traditionell ein Höhepunkt des Parlamentsjahres. Dabei überbieten sich die Mitglieder oft mit unangenehmen Fragen an den Premier.

Der Politologe Mark Garnett hält es für sehr unwahrscheinlich, dass Johnson zurücktritt. Wenn er in einer schweren Wirtschaftskrise und angesichts Fragen zu seiner persönlichen Integrität gehe, werde er als einer der schlechtesten Regierungschefs der Geschichte gelten, so Garnett: „Seine Partei wird ihn aus der Downing Street herauszerren müssen.“