Der britische Premier Boris Johnson
AP/Bertrand Guay
Liste immer länger

Weitere Rücktritte in Johnsons Kabinett

Der Druck auf den britischen Premier Boris Johnson zurückzutreten wächst weiter. Das verdeutlicht die länger werdende Liste an Regierungsmitgliedern, die Johnson die Gefolgschaft verweigern. Neben weiteren Staatssekretären trat am Donnerstag mit Nordirland-Minister Brandon Lewis das vierte Kabinettsmitglied zurück. Einen weiteren Minister hatte Johnson, der einen Rücktritt ablehnt, am Vortag entlassen.

Mit Bauminister Michael Gove entließ Johnson einen langjährigen Wegbegleiter, der ihm Berichten zufolge als Erster einen Rücktritt nahegelegt hatte. Johnson sei „in bester Laune und wird weiterkämpfen“, sagte ein enger Mitarbeiter des britischen Premiers gegenüber dem Sender Sky News.

Johnson ist mit der größten Krise seiner dreijährigen Amtszeit konfrontiert. Die Rücktritte von Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid am Dienstagabend aus Protest gegen den skandalumwitterten Regierungschef haben Dutzende weitere Rücktritte nach sich gezogen. Nach dem für Wales zuständigen Minister Simon Hart erklärte am Donnerstag Nordirland-Minister Lewis seinen Rücktritt.

Zuletzt folgten die Staatssekretäre Damian Hinds, Helen Whately, George Freeman, Guy Opperman, Chris Philp, James Cartlidge und Michelle Donelan. Schließlich rief am Donnerstag auch der erst am Dienstag ins Amt berufene Finanzminister Nadhim Zahawi Johnson öffentlich zum Rücktritt auf. „Premierminister, in Ihrem Herzen wissen Sie, was das Richtige ist. Gehen Sie jetzt“, schrieb Zahawi am Donnerstag in einem auf Twitter veröffentlichten Brief an Johnson.

„Düstere Stimmung in Downing Street“

Bei einem Krisentreffen in der Downing Street 10 am Abend versuchten führende Kabinettsmitglieder Medienberichten zufolge, Johnson gemeinsam zum Rücktritt zu bewegen – darunter offenbar auch Innenministerin Priti Patel und der erst seit 24 Stunden amtierende neue Finanzminister Nadhim Zahawi. Die Johnson-Verbündeten Jacob Rees-Mogg und Nadine Dorries bekundeten hingegen ihre Unterstützung für den Premier.

„Düstere Stimmung in Downing Street 10, Insider berichtet von ‚vielen Tränen‘ im Gebäude“, hieß es etwa auf Twitter von Pippa Crerar, die wie etliche weitere britische Politikredakteure über das teils im Minutentakt schrumpfende britische Kabinett berichten.

Johnson stemmt sich gegen Rücktritt

Trotz scharfer Kritik und etwa drei Dutzend Rücktritten von Regierungs- und Parteimitgliedern, darunter etliche Minister, will der britische Premier Boris Johnson im Amt bleiben. Er wolle nicht über seine Person, sondern über sein politisches Programm sprechen.

Johnson: „Brauchen stabile Regierung“

Doch der 58-jährige Johnson ließ sich bisher nicht umstimmen: Er wolle im Amt bleiben und sich auf „die äußerst wichtigen Themen“ konzentrieren, mit denen Großbritannien konfrontiert sei, berichteten mehrere Medien. Ein Rücktritt würde „Chaos“ verursachen und den Konservativen „fast sicher“ eine Niederlage bei der nächsten Wahl beschweren, argumentierte Johnson laut „Daily Mail“.

Auch während der wöchentlichen Fragerunde im Unterhaus und vor einem Parlamentsausschuss hatte Johnson zuvor bekräftigt, er werde im Amt bleiben. „Wir brauchen eine stabile Regierung, müssen uns als Konservative gegenseitig lieben, mit unseren Prioritäten vorankommen“, sagte er.

„Erbärmliches Schauspiel“

Oppositionsführer Keir Starmer von Labour warf dem Premierminister vor, er liefere ein „erbärmliches Schauspiel“ ab. Der Fraktionschef der Schottischen Nationalpartei (SNP), Ian Blackford, forderte eine Neuwahl.

Die Rücktritte der Minister Sunak und Javid waren wenige Minuten nach einer Stellungnahme Johnsons erfolgt, in der sich dieser dafür entschuldigte hatte, einen unter dem Verdacht der sexuellen Belästigung stehenden Tory-Politiker zum stellvertretenden Parlamentarischen Geschäftsführer gemacht zu haben. Chris Pincher war Ende vergangener Woche von diesem Posten zurückgetreten, nachdem er zwei Männer sexuell belästigt hatte.

Dabei wurde bekannt, dass Johnson bereits 2019 über Vorwürfe gegen Pincher informiert worden war. Der Premier hatte das zunächst dementieren lassen, es dann aber doch einräumen müssen und versichert, er habe diese Tatsache „vergessen“.

Misstrauensvotum nur knapp überstanden

Johnsons Regierung und seine Konservative Partei wurden in den vergangenen Monaten von einer ganzen Reihe von Affären erschüttert. Neben einer Spendenaffäre und Skandalen um übergriffige Parteikollegen wog besonders der Skandal um Partys am Regierungssitz während des Coronavirus-Lockdowns schwer.

Anfang Juni überstand Johnson nur knapp ein parteiinternes Misstrauensvotum. Ein einflussreicher Ausschuss namens 1922 Committee aus Tory-Abgeordneten ohne Ministerrang könnte die Parteiregeln Berichten zufolge kommende Woche ändern und den Weg für ein zweites Misstrauensvotum frei machen.

Dass Johnson die aktuelle Regierungskrise überstehen kann, sei schwer vorstellbar, schrieb die konservative britische Zeitung „The Telegraph“ am Donnerstag. Johnson befinde sich der Zeitung zufolge in der gleichen Lage wie einst Theresa May, „die ebenfalls eine Reihe von Rücktritten (…) und eine Vertrauensabstimmung überstand, nur um dann abgesetzt zu werden, als sich herausstellte, dass sie den Rückhalt der meisten ihrer Abgeordneten verloren hatte“.