Unter dem Motto „Gas sparen für einen sicheren Winter“ präsentierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die neuen EU-Pläne, um die Abhängigkeit von russischem Gas weiter zu reduzieren. Sie verwies auf „zwölf Staaten, die entweder teilweise oder komplett von russischem Gas“ abgeschnitten wurden. „Russland erpresst uns, Russland setzt Energie als Waffe ein“, Europa müsse „bereit sein“, so von der Leyen.
Konkret geht es nun darum, dass die Mitgliedsstaaten ihren Verbrauch in den kommenden Monaten um 15 Prozent im Vergleich zum Schnitt der vergangenen fünf Jahre verringern. Das soll an sich freiwillig geschehen – doch die EU will gegebenenfalls einen „Unionsalarm“ ausgeben können. Dieser würde den Mitgliedsstaaten eine Reduktion des Gasverbrauchs vorschreiben.

Ausgelöst kann er nur werden, wenn „ein substanzielles Risiko einer Gasknappheit oder besonders hohen Gasbedarfs“ bestehe, heißt es in einer Aussendung. Mindestens drei Staaten oder die Kommission müssten diese Notlage feststellen. Die EU-Staaten müssen dem Vorhaben noch zustimmen.
Gaslieferstopp „wahrscheinliches Szenario“
Von der Leyen sagte, sie halte eine vollständige Unterbrechung der russischen Gaslieferungen nach Europa für „ein wahrscheinliches Szenario“. Ein kompletter Lieferstopp würde von der Leyen zufolge alle EU-Staaten schwer treffen. Doch: „Wenn wir vereint agieren, können wir jede Krise überwinden“, so von der Leyen weiter.
Damit äußerte sie sich ähnlich wie Österreichs EU-Kommissar Johannes Hahn diese Woche. Es gibt jedenfalls Sorgen, dass Russland bei der Pipeline „Nord Stream 1“ nach einer geplanten Wartung, die am Donnerstag beendet werden soll, den Gashahn nicht wieder aufdreht. Russlands Präsident Wladimir Putin warnte in der Nacht auf Mittwoch vor einem weiteren Sinken der russischen Gaslieferungen, nicht zuletzt, weil für „Nord Stream 1“ weitere Wartungen anstehen.
Länder sollen Notfallpläne überarbeiten
Um das Ziel der Reduktion von 15 Prozent bis 31. März 2023 zu erreichen, sollen die Mitgliedsstaaten ihre Notfallpläne so überarbeiten, dass sie dieses Ziel beinhalten. Die Staaten sollen etwa den öffentlichen Sektor, Unternehmen und auch Haushalte dazu auffordern, den Gasverbrauch zu reduzieren. Bis Ende September sollen diese Ziele von den Ländern festgeschrieben sein, heißt es in der Aussendung der Kommission.
Gasnotfallplan für Winter
Am Mittwoch hat die EU-Kommission einen Gasnotfallplan vorgestellt. Im äußersten Fall sieht dieser Plan auch verpflichtende Sparmaßnahmen vor.
Von der Kommission wird betont, dass die Maßnahmen in erster Linie auf die Industrie abzielen. Allerdings könnten alle Sektoren zusammenarbeiten, um den Bedarf zu reduzieren, heißt es weiter. Die EU verweist auf die „geschützten Konsumenten“, also Privathaushalte und wesentliche soziale Dienstleistungen, etwa Schulen und Spitäler, die von verpflichtenden Rationierungen ausgeschlossen sind.
Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans sagte aber, dass sich auch Bürgerinnen und Bürger an den Anstrengungen beteiligen können. „Müssen wir die Klimaanlage auf 20 Grad einstellen?“ Sie ein bisschen höher einzustellen bedeute zwar möglicherweise geringeren Komfort. Gleichzeitig könnte es aber beitragen, den Gasverbrauch erheblich zu verringern.
Bestehende Regeln werden überarbeitet
Generell gibt es für den Fall einer Gasnotlage bereits einheitliche Regeln in der EU, die in der „SoS-Verordnung“ verankert sind, die Österreich bereits 2019 umgesetzt hat. Diese regelt etwa, welche Kunden in einem Ernstfall noch mit Gas versorgt werden sollen. Haushalte und essenzielle soziale Dienste werden als geschützte Verbraucher besonders behandelt. Sie genießen eine besondere Stellung, und ihnen kann von den Mitgliedsländern Vorrang eingeräumt werden.
Nach den derzeit geltenden EU-Regeln gilt grundsätzlich die Industrie zum Beispiel in einem Notfall nicht als geschützter Verbraucher, und ihre Versorgung würde im äußersten Fall eingestellt.
Mitgliedsstaaten meldeten im Vorfeld Bedenken an
Schon jetzt gibt es Mitgliedsstaaten, die sich nicht an die Regeln halten wollen. So hat Ungarn vergangene Woche einen Notstand ausgerufen und angekündigt, dass es ab August kein Gas und andere Energieträger mehr an andere EU-Länder liefern will. Die EU-Kommission untersucht diesen Schritt gerade.
Auch Polen hält nicht viel von der Idee: „Wir sind gegen die Auferlegung verbindlicher Reduktionsziele“, sagte die polnische Klimaministerin Anna Moskwa letzte Woche. Polen hat seine Gasspeicher zu 98 Prozent gefüllt, nachdem Russland im April die Gaslieferungen an das Land eingestellt hatte.
Eine vollständige russische Gasabschaltung in Verbindung mit einem kalten Winter könnte das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU um bis zu 1,5 Prozent sinken lassen, wenn die Länder sich nicht darauf vorbereiten würden, heißt es vonseiten der Kommission. Auch in einem durchschnittlichen Winter könnte sich das BIP um bis zu ein Prozent reduzieren.
Gewessler: Wichtiger Schritt
In einer Aussendung bezeichnete Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) die EU-Pläne als wichtigen Schritt. „Wir bereiten uns gemeinsam auf alle Szenarien vor. Und es ist gut, dass wir das in der EU solidarisch tun und aufeinander Rücksicht nehmen. Ich halte die Vorschläge der Kommission für vernünftig“, so Gewessler. Die Pläne für den gemeinsamen Gaseinkauf seien aber weiterhin vage, sie wünsche sich mehr Tempo. Welche Maßnahmen die Staaten zur Erreichung des Sparzieles treffen, bleibe ihnen überlassen.
Energieminister beraten am Dienstag
Am Dienstag wird es einen außerordentlichen Rat der Energieministerinnen und Energieminister in Brüssel geben. Dort wird die aktuelle Situation bewertet und der neue Vorschlag der Kommission diskutiert. Dort könnte es noch zu viel Gegenwind für die EU-Pläne kommen: Nicht zuletzt die Solidarität wird wohl Streitthema sein. Die österreichischen Gasspeicher seien heute zu mehr als 50 Prozent gefüllt, der Vorrat entspreche etwa der Hälfte des österreichischen Jahresverbrauchs, so Gewessler noch vor der EU-Ankündigung.
„Wir können im Notfall auf alle Mengen zugreifen“, sagte Gewessler. Im Sinne der europäischen Solidarität würde sie das aber „nicht vorschlagen in einem ersten Schritt“, man werde vielmehr „darauf schauen müssen, dass wir unsere europäischen Verpflichtungen erfüllen“.
„Am Energiesparen führt kein Weg mehr vorbei“
Für NEOS-Europaabgeordnete Claudia Gamon führt „am Energiesparen jetzt kein Weg mehr vorbei“. In Österreich sehe sie derzeit allerdings „wenig Engagement und wenig Plan“. Der Vorschlag der EU-Kommission sei ebenfalls zu kurz gedacht. Man habe es verabsäumt, die Energieinfrastruktur und den Gasmarkt zu modernisieren.
FPÖ-Chef Herbert Kickl forderte unterdessen ein „sofortiges Ende“ der Sanktionen gegen Russland. Europa stehe „vor den Trümmern der Sanktionspolitik“. Man sei „mitten in einem Wirtschaftskrieg, in dem leider Russland mit seinen Gasvorkommen die schärferen Waffen in der Hand hat“, so Kickl. Der Krieg in der Ukraine könne nicht durch Sanktionen, sondern nur am Verhandlungstisch beendet werden.
Auch aus Sicht der Arbeiterkammer (AK) wird in Österreich „sehr viel geredet und geprüft, aber wenig umgesetzt“. Sie wünscht sich eine umfassende Energiesparkampagne und ein neues Energieeffizienzgesetz. Österreich müsse sich außerdem auf EU-Ebene für eine Entkopplung des Strommarktes vom Gasmarkt einsetzen.
Mahrer: „Realistische Lösungsmöglichkeiten“
Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer hält die Vorschläge der EU-Kommission für „erfreulicherweise realistische Lösungsmöglichkeiten“. Die Regierung müsse die Vorgaben nun rasch umsetzen. Gleichzeitig sei es notwendig, im Notfallplan für Österreich konkreter festzuhalten, welche Gruppen im Falle eines Gasengpasses vorrangig versorgt werden. Die Chemische Industrie forderte einen „umfassenden Masterplan“ für die österreichische Gasversorgung der kommenden Monate.
Die Umweltorganisation WWF wünscht sich unterdessen einen „Energiespargipfel im Kanzleramt“. Sie will ebenfalls ein neues Energieeffizienzgesetz und den Ausstieg aus Erdgas beim Heizen. Auch die Umweltorganisation Global 2000 wünscht sich umweltfreundliche Heizsysteme in Österreich und kritisiert, dass die Umstellung von Gasheizungen im Eneuerbaren-Wärme-Gesetz (EWG) nicht vorgesehen sei.