de rtunesische Präsident Kais Saied
Reuters/John Thys
Neue Verfassung in Tunesien

Präsident stellt Demokratie auf Probe

Am Montag lässt Präsident Kais Saied die Tunesier über eine neue Verfassung abstimmen, die seine Macht stark ausweiten würde. Juristen bezeichnen den neuen Entwurf als „gefährlich“, sehen die rechtlich umstrittene Alleinherrschaft des Präsidenten dadurch legalisiert und „den Weg in eine Diktatur“ geebnet. Bisher kam Saied die Wut der Bevölkerung auf die politische Elite zugute – doch es regt sich Widerstand.

Der überarbeitete Verfassungsentwurf von Präsident Saied stellt eine klare Abkehr von dem 2014 eingeführten parlamentarischen System dar. So hat der Präsident die Regierungsgewalt inne und wird dabei von einem Regierungschef unterstützt, den er ernennt und der nicht auf das Vertrauen des Parlaments angewiesen ist. Die Rolle des Parlaments wird durch die neue Verfassung deutlich begrenzt, die Justiz fällt unter die Kontrolle des Präsidentenpalastes.

Ausgerechnet Sadok Belaid, Vorsitzender der von Saied ausgewählten Verfassungskommission, zeigte sich schockiert von den Änderungen, die der Präsident nach der ersten Vorstellung des Entwurfes am 20. Juni vorgenommen hatte. Die zehn Tage später von Saied veröffentlichte Version hätte mit dem von anerkannten Juristen erarbeiteten Papier nichts mehr zu tun und ebne vielmehr den Weg zu einer Diktatur.

In Artikel 55 heißt es fortan, dass die in der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten nur durch ein Gesetz oder eine „von einer demokratischen Ordnung auferlegten Notwendigkeit“ eingeschränkt werden dürften. Rechte dürften außerdem nur eingeschränkt werden, um die Rechte anderer zu schützen, oder für die „öffentliche Sicherheit, die nationale Verteidigung oder die öffentliche Gesundheit“.

„Rückkehr zu finsteren Zeiten“

Der Verfassungsentwurf des Präsidenten sei „die Rückkehr zu den finsteren Zeiten der islamischen Zivilisation“, so Kommissionschef Belaid. Tunesien definiert sich in der Verfassung als Teil der islamischen Weltgemeinschaft. Damit dürfte das gerade reformierte Erbschaftsrecht, das auch Frauen gleiche Rechte gibt, Geschichte sein, so die „Süddeutsche Zeitung“ („SZ“). In Artikel 55 wird die „öffentliche Moral“ über persönliche Rechte und Freiheiten gestellt, was etwa für Unverheiratete oder die LGBTQ-Szene problematisch werden könnte.

In Artikel 5 hat der Präsident etwa in dem Abschnitt, wonach Tunesien „Teil der islamischen Gemeinschaft“ sei und der Staat „auf ein Erreichen der Ziele des Islam“ hinarbeiten müsse, die Formulierung „innerhalb eines demokratischen Systems“ eingefügt. Seit der Verfassung von 1959 war der Bereich der Religion in Artikel 1 enthalten. Da es nun „allein dem Staat obliegt, sich dafür einzusetzen, dass die Ziele des Islam (…) gewährleistet werden“, wird befürchtet, der Artikel könnte zu einer Rückkehr der Scharia als Gesetzesgrundlage führen, so die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („FAZ“).

Wut der Bevölkerung spielte Saied in die Hände

Saied hat im vergangenen Jahr bereits die meisten Befugnisse an sich gerissen. Die demokratische Verfassung von 2014 hat der 64-Jährige außer Kraft gesetzt und das gewählte Parlament entlassen, um per Dekret zu regieren, während er das politische System nach seinen Vorstellungen in eine „Demokratie von unten“ ohne Parteien umgestaltet.

Dabei spielten dem gelernten Juristen und Professor für Verfassungsrecht die Proteste zahlreicher Tunesierinnen und Tunesier in die Hände, die sich von der Regierung während der Coronavirus-Pandemie im Stich gelassen fühlten.

Saied begründete seinen Putsch mit einer „akuten Gefahr für die nationale Sicherheit“. Da die Zufriedenheit der Bevölkerung mit dem Rauswurf der vermeintlich korrupten Politiker überwog, blieben große Proteste überraschenderweise aus, weshalb Saied die Abgeordnetenkammer im Herbst endgültig auflöste und fortan alleine regierte. Mit der Ernennung einer Regierung beauftragte er im Alleingang als erste weibliche Premierministerin Najla Bouden, deren Befugnisse jedoch stark eingeschränkt sind.

Permierministerin Najla Bouden und Präsident Kais Saied
APA/AFP/Tunisian Presidency
Bouden ist die erste Ministerpräsidentin Tunesiens, hat faktisch jedoch kaum Macht

„Demokratie hat viel versprochen, wenig geliefert“

Vor allem am Land erfuhr Saied bisher breite Unterstützung von Tunesierinnen und Tunesiern, die das politische System als korrupt empfanden. „Tunesien wurde im Ausland gerne als Vorzeigeland des arabischen Frühlings bezeichnet. Für viele Bürger hatte die Demokratie viel versprochen, aber nicht geliefert“, so der politische Analyst Hamza Meddeb gegenüber der „SZ“. „Die nach 2011 gewählten Parteien und Institutionen schienen in den Regionen sogar korrupter und unfähiger als vor der Revolution zu sein.“

Die Verfassung von 2014, die als demokratischer Meilenstein gefeiert wurde, da sie etwa die Gewaltenteilung verankerte, wurde im Streit zwischen den politischen Lagern, den häufig wechselnden Regierungen und dem schwachen Parlament zudem immer unbeliebter, so die „SZ“. Für Saieds Unterstützer stehe der Verfassungsvorschlag als Fortführung des eigentlichen „revolutionären Willens“ von 2010 und 2011, schrieb die „FAZ“.

Demonstranten in Tunis
AP/Hassene Dridi
Tunesische Demonstranten versammeln sich während einer Kundgebung zur Unterstützung von Saied in Tunis

Keine Antworten auf aktuelle Krisen

Doch knapp vor der Abstimmung über die neue Verfassung brodelt es im tunesischen Volk. Tunesien gehört zu jenen Ländern, die auf Importe knapp gewordener Lebensmittel wie Getreide angewiesen sind und deren Preise im Zuge des Ukraine-Krieges rasant ansteigen. Während der Pandemie entfielen dem Land wichtige Einnahmen aus dem Tourismus. Aus den Ankündigungen des Präsidenten geht jedoch nicht hervor, ob Maßnahmen gegen den drohenden Staatsbankrott, die steigende Inflation und den Zusammenbruch des Gesundheitssystems geplant sind.

Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich zudem von Saieds Umbau des Staates im Rahmen seiner geplanten Mischung aus Basisdemokratie und Präsidialherrschaft ausgeschlossen. Bei den Streiks und Straßenprotesten der Gewerkschaften und der Ennahda-Partei beteiligten sich bereits Tausende Menschen, das öffentliche Leben kam kurzzeitig zum Erliegen.

Eine Onlineplattform, auf der Vorschläge für Paragrafen eingeschickt werden konnten, verzeichnete unter anderem wegen technischer Probleme nur eine Beteiligung von sieben Prozent. „Wenn nicht einmal Behörden per Mail zu erreichen sind oder über eine funktionierende Website verfügen, wie kann man dann eine solche grundsätzliche gesellschaftliche Diskussion als Onlineabstimmung abhalten?“, sagte der politische Analyst Selim Kharrat von der Denkfabrik Al Bawsala gegenüber der „SZ“.

Widerstand bei Wahl zeichnet sich bereits ab

Schon jetzt würden die gesellschaftlichen Reaktionen auf den Verfassungsentwurf zeigen, dass eine konstitutionelle Neugründung Tunesiens nicht einvernehmlich und ohne Widerstand beschlossen werden wird, prognostizierte die „FAZ“. Die landesweit größte Gewerkschaft UGTT und die Vereinigung der Richter gaben bereits bekannt, das für den 25. Juli geplante Referendum abzulehnen.

Die Annahme des Verfassungstextes wird laut dem neuen Artikel 139 direkt nach der Verkündigung der Ergebnisse der Abstimmung in Kraft gesetzt. Unabhängig von der Wahlbeteiligung – und vermutlich auch unabhängig vom Ergebnis, so die „SZ“.