Hochspannungsleitungen neben Kühltürmen eines Atomkraftwerks
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Wegen Erdgaskrise

Europa mitten in neuem AKW-Streit

Europa verstrickt sich derzeit in eine neue Atomkraftdebatte. Nachdem es zuletzt um die Streitfrage „grüner“ Strom aus dem AKW ging, ist diesmal die Angst vor einem russischen Erdgaslieferstopp samt Energiekrise die Triebfeder. Vor allem in Deutschland ist das Thema Atomausstieg wie geplant oder doch erst später brisant. Von außen machen mehrere EU-Partner Druck.

Die Angst vor einer Energiekrise im Winter, sollte Russland seine Erdgaslieferungen nach Europa als Retourkutsche für die westlichen Sanktionen zur Gänze einstellen, ist derzeit praktisch allgegenwärtig. Rufe, die Laufzeiten von Kraftwerken zu verlängern, sogar bereits stillgelegte Meiler wieder in Betrieb zu nehmen, werden lauter, aktuell vor allem in Deutschland.

Deutschland hatte 2011 den Ausstieg aus der Atomkraft zur Stromerzeugung beschlossen, aktuell sind noch drei Kraftwerke in Betrieb (Isar 2 in Bayern, Emsland in Niedersachsen und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg). Sie sollen bzw. sollten eigentlich Ende dieses Jahres heruntergefahren werden, „spätestens“, wie es aktuell noch beim Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) heißt. Die deutsche Presse war am Freitag voll mit dem Thema.

Ein „Sonderszenario“ mit Blick auf den Winter

„Schlägt jetzt die Stunde der Stimmungsmacher gegen den Atomausstieg?“, fragte das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ und stellte fest: „Deutschlands Kernkraftwerke müssen wohl länger am Netz bleiben als geplant.“ Selbst der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) schließe eine Verschiebung des Ausstiegs nicht mehr aus, schrieb der „Spiegel“ am Freitag. Ein „Stresstest“ für die Energieversorgung „könnte ein ‚Sonderszenario‘ erfordern“, wurde Habeck aus einem Interview mit dem Sender RTL zitiert. Das Ergebnis des Tests werde in den nächsten Wochen erwartet.

Atomkraftwerk Neckarwestheim in Baden-Württemberg (Deutschland)
APA/AFP/Thomas Kienzle
Das AWK Neckarwestheim: Nachdenken über Weiterbetrieb im „Sonderszenario“ Erdgaskrise

Die deutsche Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) schloss einen kurzfristigen Weiterbetrieb von „Isar 2“ zuletzt nicht aus. Sollte der laufende Stresstest zur Energiesicherheit ergeben, „dass Bayern tatsächlich ein ernsthaftes Strom- bzw. Netzproblem haben könnte, dann werden wir diese Situation und die dann bestehenden Optionen bewerten“, sagte sie der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.

Unverständnis für Ausstiegspläne bei EU-Partnern

Der Ausstiegsplan beschäftigt aber nicht nur Deutschland, sondern auch mehrere EU-Partner. Weshalb? Berlin bitte „andere EU-Staaten um Solidarität beim Gassparen“, wolle gleichzeitig aber an den Plänen, die AKWs stillzulegen, festhalten. „In einigen Partnerländern sorgt das für Unmut. Nun wächst der Druck auf die Bundesregierung, den Atomausstieg zu verschieben“, schrieb gleichfalls der „Spiegel“ am Freitag. Kritik komme etwa aus Frankreich, Ungarn, Rumänien und der Slowakei.

Aus deren Sicht könnte ein Weiterbetrieb der deutschen AKWs erheblich dazu beitragen, Gas zu sparen, da in der Bundesrepublik zuletzt noch immer etwa 15 Prozent des Stroms von Gaskraftwerken erzeugt wurden. Sollte Russland seine Gaslieferungen in die EU komplett einstellen, wären dann mehr Reserven für das Heizen von Haushalten und für die Industrie verfügbar.

„Wenn Deutschland Gas sparen möchte, dann möge es doch bitte seine Atomkraftwerke weiterlaufen lassen – beziehungsweise die drei, die letztes Jahr abgeschaltet wurden, die könnten ja wieder ans Netz gehen“, hatte etwa der slowakische Wirtschaftsminister Richard Sulik am Dienstag am Rande von EU-Beratungen in Brüssel erklärt. Kritisch hatte sich auch Ungarns Regierungschef Viktor Orban geäußert – samt Befürchtung, seinem Land würde im Krisenfall zugesagtes Erdgas „weggenommen“. Budapest stimmte dem EU-Notfallplan nicht zu.

Belgien verschob Ausstieg um zehn Jahre

Belgien hatte seinen für 2025 geplanten Atomausstieg schon relativ bald nach dem russischen Angriff auf die Ukraine Ende Februar auf Eis gelegt, zuletzt wurden die Pläne konkretisiert. Zwei Reaktoren sollen nun bis 2036 am Netz bleiben, einige vorher heruntergefahren werden. Aktuell betreibt das Land sieben Reaktoren in zwei AKWs, Doel und Tihange, beide bereits stark in die Jahre gekommen.

„Stuttgarter Erklärung“ und skurrile Vorschläge

Eine unorthodoxe bis skurrile Idee kam zuletzt aus Polen. „Wenn die Deutschen ihre Kernenergie nicht selbst nutzen wollen, sollten sie sie verpachten“, forderte die Parlamentsabgeordnete Paulina Matysiak von der linksgerichteten Partei Razem (dt.: Gemeinsam) nach einem Besuch in Berlin. Die polnische Regierung solle der deutschen Bundesregierung einen entsprechenden Vorschlag machen. Deutsche AKWs sollten weiterlaufen „zum Wohle der Sicherheit Europas und des Klimas“, schrieb Razem-Parteichef Adrian Zandberg auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

Schon Anfang Juli hatten sich zehn EU-Energieminister, darunter auch der französische, in einem Gastkommentar für das deutsche „Handelsblatt“ für den Ausbau der Atomenergie in der Union ausgesprochen – Stichworte: „Taxonomie“ und „grüner“ Strom aus dem AKW. In Deutschland deponierten diese Woche 20 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen von verschiedenen Universitäten einen offenen Brief, genannt „Stuttgarter Erklärung“, beim Bundestag. Einleitend heißt es darin: „Mit einseitiger Ausrichtung auf Sonne, Wind und Erdgas wurde Deutschland in Energienot manövriert.“ Es folgt ein Plädoyer für Atomkraft als dritte „Klimaschutzsäule“ neben Sonne und Wind.

Eine „Scheindebatte“ oder doch mehr?

Der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) hatte sich Mitte der Woche erneut für den Weiterbetrieb der verbliebenen drei AKWs bis 2024 ausgesprochen. „Es muss in jedem Fall eine Stromlücke verhindert werden“, sagte er in Berlin. Er sei „in der jetzigen Situation offen für die Nutzung der Kernenergie“. Inwieweit das auch bereits stillgelegte Kraftwerke einschließen könne, könne er „nicht beurteilen“. Bei den drei noch in Betrieb befindlichen „brauchen wir aber diese Diskussion“.

Grafik zum Atomausstieg in Deutschland
Grafik: APA/ORF.at

CDU- und Oppositionschef Friedrich Merz forderte die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP auf, umgehend neue Brennstäbe anzuschaffen. Die SPD steht einer Laufzeitverlängerung wie die Grünen auch skeptisch gegenüber. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will vor einer Entscheidung die Ergebnisse des laufenden „Stresstests“ abwarten.

Für den Koalitionspartner Grüne nannte die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Katrin Göring-Eckardt, die gesamten Differenzen am Freitag eine „Scheindebatte“ – obwohl selbst sie zuletzt einen (kurzen) „Streckbetrieb“ über das Jahresende hinaus im Notfall nicht ausgeschlossen hatte. „Es bleibt beim Atomausstieg.“ Das sei so „in der Koalition vereinbart“.

„Wichtigster Maßstab ist und bleibt Sicherheit“

Eine Frage, die in der aktuellen Debatte etwas unter den Tisch fällt, griff der Präsident des BASE, Wolfram König, auf: die nach der Sicherheit in die Jahre gekommener Atommeiler. Er sieht eine Laufzeitverlängerung für die drei letzten deutschen AKWs in Betrieb sowie einen Wiedereinstieg in die Atomkraft skeptisch.

„Längere Laufzeiten, Streckbetrieb oder Wiedereinstieg – wie viel mehr Atomkraft darf es denn wohl sein?“, fragte er gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „In der momentanen Debatte fehlt ein zentraler Aspekt: Wichtigster Maßstab im Umgang mit der Hochrisikotechnologie Atomkraft ist und bleibt die Sicherheit.“