„6-Tage-Spiel“-Aufführung

Nitschs Privatmystik mit Beuschl und Farbe

Als wuchtiges Gesamtkunstwerk hat Hermann Nitsch (1938–2022) sein „6-Tage-Spiel“ konzipiert, ein Theaterstück mit dem Schloss Prinzendorf als Bühne, das alle Sinne ansprechen soll und die Kulturgeschichte bis zurück zum Mythos durchmisst. Seit der kontroversiellen ersten Gesamtaufführung sind 24 Jahre vergangen, am Wochenende wurden die ersten beiden Tage einer überarbeiteten Fassung aufgeführt.

Gruppen gelöst lächelnder Menschen in blutgetränkten weißen Roben, rundherum Blumendekor, ausgeweidete Tierkörper an Kreuzen, die Luft mit einem Gemisch aus Weihrauch, Blüten- und Blutgeruch angefüllt, darüber schnell vorbeiziehende Wolken am Weinviertler Himmel – genau kalkulierte Bilder und Sinneseindrücke wie jene in Nitschs seit 1957 konzipiertem Hauptwerk, einem entgrenzten Theater, das den Anspruch stellt, an tiefsten psychologischen Konstanten zu rühren, kommen einem in derart konzentrierter Form wohl nirgendwo abseits des Schlosses Prinzendorf unter.

Hier realisierten am Samstag und Sonntag über 60 Akteurinnen und Akteure – so bezeichnete der Künstler die Darstellerinnen und Darsteller seines „Orgien Mysterien Theaters“ – ihre 160. Aktion, zugleich die erste nach dem Tod Nitschs am Ostersonntag dieses Jahres. Seit der berühmt-berüchtigten ersten Aufführung dieses Happenings, das sich nicht von ungefähr an die Dauer der christlichen Schöpfungsgeschichte anlehnt, sind 24 Jahre vergangen, in denen Nitsch den minutiös geplanten Ablauf überarbeitete oder, wie es in seiner Terminologie heißt, „vervollkommnete“.

Fotostrecke mit 6 Bildern

Eindrücke vom Hermann Nitsch 6-Tage-Spiel 2022
Hermann Nitsch GmbH, Foto_FEYERL
Bei Sonnenaufgang am Samstag nahmen die Akteurinnen und Akteure Aufstellung – schon bald folgten die bekannten Kreuzigungsszenen
Eindrücke vom Hermann Nitsch 6-Tage-Spiel 2022
Hermann Nitsch GmbH, Foto_FEYERL
Elemente des religiösen Dramas als gelungene Privatmystik: Kreuzigung und Fußwaschung
Eindrücke vom Hermann Nitsch 6-Tage-Spiel 2022
Hermann Nitsch GmbH, Foto_FEYERL
Die neue Fassung des „6-Tage-Spiels“ barg einige Neuerungen: Am ersten Tag eine Szene mit Monstranz, am zweiten Tag dominierten Schüttaktionen in Regenbogenfarben
Eindrücke vom Hermann Nitsch 6-Tage-Spiel 2022
Hermann Nitsch GmbH, Foto_FEYERL
Blutaktion am Schüttboden, Nitschs legendärem Atelier am Dachboden des Schlosses Prinzendorf
Eindrücke vom Hermann Nitsch 6-Tage-Spiel 2022
Hermann Nitsch GmbH, Foto_FEYERL
Die Konsistenz der Farben war für Nitsch immer von großer Bedeutung, Schüttaktion im Hof am Sonntagnachmittag
Eindrücke vom Hermann Nitsch 6-Tage-Spiel 2022
Hermann Nitsch GmbH, Foto_FEYERL
Die Schüttaktion auf riesiger Leinwand erinnerte an Nitschs „Walküre“-Bühnenbild bei den Bayreuther Festspielen 2021

Nitsch, postum

Es war Nitschs letzter großer Wunsch, das „6-Tage-Spiel“ noch einmal als „Spielleiter“ aufzuführen – die Pandemie kam ihm dazwischen. Aus dem geplanten Termin 2020 wurde 2021 und schließlich 2022 – als Trost konnte er vergangenes Jahr in Bayreuth noch eine konzertante Aufführung von Richard Wagners „Walküre“ in Bayreuth mit einer Malaktion begleiten.

Der intensiven Beschäftigung mit Wagner trug auch Nitschs postumes Gesamtkunstwerk am Samstag und Sonntag Rechnung: zwei Orchester mit über 100 Musikerinnen und Musikern lenkten mit bombastischen Kompositionen die Aneinanderreihung immer intensiver werdender Aktionen. Von Ausweidungen von Schweinen über Kreuzigungen von Akteurinnen und Akteuren, Prozessionen und Blutschütt- und Malaktionen war das gesamte Ausdrucksrepertoire, das Nitsch in sechs Jahrzehnten erarbeitet hatte, vertreten.

Kam es beim „6-Tage-Spiel“ 1998 noch zu einem Eklat, als Tierschützer vor dem Schloss protestierten und auch teilweise von politischer Seite die Aufführungsberechtigungen in Prinzendorf in Zweifel zogen, war am vergangenen Wochenende die Stimmung zu Beginn geradezu museal. Punkt eins des dramaturgischen Ablaufs – „das fest findet bei jedem wetter statt“ – wurde jedenfalls auf die Probe gestellt, als der Samstag mit Regen begann.

Synästhesie mit Synthesizer

In seinen Partituren legt Nitsch detailliert viele Ebenen des Geschehens fest, Gerüche sind ebenso choreografiert wie das eigentliche dramatische Geschehen und die Malaktionen. Die „sinnliche“ Entfaltung, die im „6-Tage-Spiel“ angelegt ist, wollte sich zunächst noch nicht komplett verdichten – neben den bekannten Kreuzigungsszenen war die Musik unter der Leitung des Dirigenten Andrea Cusumano dominant. In den häufigen Passagen, in denen die Aktionen ruhten und nur langsam von Akteurinnen und Akteuren die nächste Szene durch Bereitstellen von Innereien, Blut, Trauben und Tomaten vorbereitet wurde, herrschte ein langer konstanter Synthesizerton vor.

Sendungshinweis

Der „kulturMontag“ bringt einen Nachbericht zur Aufführung des „6-Tage-Spiels“, zweite Fassung. 1. August, ab 22.30 Uhr auf ORF2.

Erst in der Wiederholung von lang gehaltenem Ton und dem plötzlich erklingenden Pfeifen, dem Startsignal für die blutgetränkten Szenen, ergab sich eine Dramaturgie, die die Aufmerksamkeit des Publikums zu fesseln wusste. Die Pfeifensignale wurden von Nitschs Adoptivsohn Leonhard Kopp und dem langjährigen Assistenten Frank Gassner übernommen.

Wühlaktion in der Kulturgeschichte

Nitschs schon früh formulierte Thesen zum „Orgien Mysterien Theater“ wühlen analog zu den Akteurinnen und Akteuren in den Innereien der Kulturgeschichte. Gewissermaßen solle sein Theater vorführen, wie alle Kultur auf Exzessen von Gewalt und Ritualisierung beruhe, beschrieb er immer wieder.

Während er seine ausgestellten Kunstwerke immer nur als „Relikte“ der Aktionen verstand, die alle wiederum nur Vorstufen des „Hauptwerks“, eben des „6-Tage-Spiels“, waren, führte vor allen der zweite Aufführungstag am Sonntag näher zu dem hin, was Nitsch im Sinn hatte. Immer heftigere Szenen, in denen auf Kreuze gebundene Akteure mit toten Schweinen bedeckt und über diese Tomaten, Trauben und große Mengen Blut geschüttet wurden, entfalteten einen Schrecken, der durch Malaktionen mit Regenbogenfarben wieder aufgehoben wurde.

Eindrücke vom Hermann Nitsch 6-Tage-Spiel 2022
Hermann Nitsch GmbH, Foto_FEYERL
Kontrapunkt zum blutigen Mythos: Malaktion mit Regenbogenfarben

Die Partitur spielt auch heute, wo die Kontroversen rund um Nitschs Werk längst historisch geworden sind, noch auf der Klaviatur der Publikumsemotionen – auch wenn einzelne Regieanweisungen wie der Beuschelwurf aus dem Schloss nahe an die Grenze des Grotesken führen: „aus den fenstern des schlosses werden gedärme und lungen in den hof geworfen“.

Privatmythos und Pandemie

Auch die durchkomponierte Geruchsebene begann sich am Sonntag durch das schöne Wetter in das zu fügen, was als „Gesamtkunstwerk“ konzipiert war – abwechselnde Geruchsschwaden von Blut und Blumenduft spiegelten die Abwechslung von versöhnlichen und erschreckenden Szenen. Wie profund diese Aufführung auf die Theatergeschichte zurückgriff – durchaus im großen Bogen von den spanischen religiösen Fronleichnamsspielen des 16. Jahrhunderts bis zum Theater der Grausamkeit eines Antonin Artaud –, ist beachtlich.

Auch die Bezeichnung als „Spielleiter“ ist ein augenzwinkerndes Verbeugen vor dieser Tradition – das Barock begriff die Welt gern als Theater und Gott als höchsten Spielleiter. Nitschs Querverbindungen von Psychologie, Philosophie, Musik und Drama vereinen sich zu einer Privatmystik, zu einer alchemistischen Wissenschaft, die tatsächlich nur im Moment der Aufführung zu atmen beginnt.

Auszug aus der Partitur vom Sechstagesspiels, zweite Fassung von Hermann Nitsch
ORF.at/Florian Baranyi
Auszug aus der Hermann Nitschs Partitur des „6-Tage-Spiels“, zweite Fassung

Ein Theater, das als mehrtägiges Fest mit emotionalen Auf und Abs konzipiert ist und das derart auf die Einlassung des Publikums abgestellt ist, hat es nach der pandemiebedingten Entwöhnung von der Präsenzkultur schwer. Das zeigte sich am ersten Tag, als die sonst wenig beschäftigten Securitys hauptsächlich versuchten, das Fotografieren mit Smartphones zu unterbinden – ein Erlebnis ist nur noch real, wenn es auf Social Media gepostet werden kann, so schien es.

Im nächsten Jahr soll, so Rita Nitsch gegenüber der APA, Tag drei des „6-Tage-Spiels“ über die Bühne gehen, in den nächsten Jahren Tag vier bis sechs folgen. Ob Prinzendorf in Zukunft immer wieder Bühne seiner Aktionen werde, wie es sich der Künstler gewünscht hatte, hänge von den Finanzen ab. „Wenn es mir finanziell möglich ist, werde ich weiter versuchen, Ausschnitte oder auch mehrere Tage von seinem ‚6-Tage-Spiel‘ in regelmäßigen Abständen zu spielen“, so Rita Nitsch.