Ein Zahnarzt bei der Behandlung einer Patientin
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Britische Zahnarztkrise

Griff zum Superkleber statt Arzttermin

Das britische Gesundheitssystem steckt in der Krise – vor allem bei der Zahnmedizin, wie aktuelle Daten zeigen. Neun von zehn Zahnarztpraxen nehmen keine neuen Patientinnen und Patienten auf, nur wenige Praxen führen Wartelisten, bis zu einem Termin dauert es oft Monate. Während manche ins Ausland ausweichen, um behandelt zu werden, setzen andere auf Selbstbehandlung. Fachleute sprechen von einer „düsteren“ Situation.

Eine gemeinsame Befragung der BBC und der British Dental Association (BDA) bei über 7.000 Praxen von Zahnärztinnen und Zahnärzten zeichnet ein verheerendes Bild der Zahnmedizin in Großbritannien: Neun von zehn nehmen keine neuen Patienten. In einem Drittel der Verwaltungsbezirke werden überhaupt keine erwachsenen Patienten über das staatliche National Health Service (NHS) aufgenommen.

Besonders schlimm ist die Situation in England, lediglich in Schottland sieht die Lage marginal besser aus: Dort werden in 82 Prozent der Praxen keine neuen Patienten aufgenommen. Gegenüber der BBC sagte Louise Ansari von Healthwatch England, eine Organisation, die das nationale Gesundheitssystem beobachtet, die Situation sei „düster“. Sie habe Berichte gehört, wonach Menschen ihre eigenen Zähne gezogen hätten, schreibt der „Guardian“.

Abenteuerliche Selbstbehandlungen

Und das ist noch nicht alles – die Expertin berichtet von noch weit abenteuerlicheren Selbstbehandlungsversuchen: „Es ist plötzlich nichts Ungewöhnliches, wenn wir von ‚Do it yourself‘-Zahnmedizin hören: Zähne aus Kunstharz und die Befestigung am Zahnfleisch mittels Superkleber – es ist für diese Menschen eine absolut unerträgliche Situation“, so Ansari.

Zahnarztbesteck
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Der Gang zum Zahnarzt oder der Zahnärztin ist in Großbritannien zum Problem geworden

Andere Betroffene weichen ins Ausland aus, vor allem auch für anspruchsvollere Behandlungen, die erst gar nicht vom NHS erfasst werden. Diese müssen damit von Privatärzten behandelt werden – und sind entsprechend kostspielig.

Teuerung verschlimmert Situation zusätzlich

Doch auch herkömmliche Behandlungen sind ein finanzielles Problem: Das NHS bietet die meisten Behandlungen nicht automatisch kostenlos an, sondern steuert normalerweise nur einen Teil der Kosten bei, schreibt die BBC. Im Hinblick auf die anhaltende Teuerung wird das vor allem für den ärmeren Teil der Bevölkerung zur Herausforderung.

Das ist aber nur einer von vielen Faktoren, der die zahnmedizinische Misere in Großbritannien zusätzlich anfeuert. Healthwatch sieht einen lang anhaltenden Mangel bei NHS-Leistungen, der vor allem durch die Pandemie verschärft wurde: Viele Ärzte nahmen plötzlich keine NHS-Patienten mehr auf. Nicht zuletzt schrumpfte auch allgemein die Zahl der Zahnärzte in den vergangenen zwei Jahren.

Vertrag aus dem Jahr 2006 macht Ärzte unglücklich

Doch die Zahnarztkrise hat sich schon länger angekündigt: Der Vertrag des NHS mit den Ärzten in England und Wales stammt aus dem Jahr 2006, schreibt die BBC – und sei unpopulär bei den Medizinern, die sich für ihre Arbeit „nicht belohnt fühlen“. Die Sparpolitik führte dann zu weiteren Budgetkürzungen, die Pandemie verursachte schließlich einen langen Rückstau an Patientinnen und Patienten, der jetzt offensichtlich zum Kollaps führte.

GB: Patienten finden keinen Zahnarzt

In einem Drittel der mehr als 200 Gemeindebezirke des Vereinigten Königreichs gibt es keine Zahnärztinnen und Zahnärzte, die erwachsene Patientinnen und Patienten aufnehmen, die über den staatlichen National Health Service (NHS) versichert sind. Für private Behandlungen fehlt vielen Menschen allerdings das Geld.

Die Zahnärzte sehen ein grundlegendes Problem im Gesundheitssystem – und einen Mangel an Investition: „Das Finanzministerium scheint nicht wirklich entschlossen zu sein, in die Zahnmedizin zu investieren“, zitiert die BBC den BDA-Vorsitzenden Eddie Crouch. „Die Patienten lassen sich Zähne entfernen, weil es billiger ist, als die Zähne zu retten. Das ganze System ist auf Ungleichheit bei der Gesundheit ausgerichtet, und das muss sich dringend ändern“, so Crouch.

Ministerium verweist auf Pläne für neuen Vertrag

Im britischen Gesundheitsministerium verweist man auf eine angekündigte Überarbeitung des Vertrags mit den Zahnärzten. Damit wolle man mehr Patienten behandeln können und die Ärzte fairer entlohnen, zitiert der „Guardian“ einen Sprecher.

Doch auch andere Herausforderungen warten auf das britische Gesundheitssystem: Gegenüber dem „Telegraph“ sagte Gesundheitsminister Steve Barclay, man müsse einen „Sprint“ einlegen, um für den Herbst gerüstet zu sein. Entscheidungen müssten jetzt getroffen werden – sonst sei es zu spät. Er verwies etwa auf eine Grippewelle – oder steigende CoV-Zahlen. „Zu meinen Aufgaben gehört es, sich auf die schlimmsten Szenarien vorzubereiten“, so Barclay.

Rekordwartezeiten in Krankenhäusern

Auch in den Spitälern sieht die Lage momentan kaum besser aus: Britinnen und Briten müssen so lange wie nie auf eine Routinebehandlung in Krankenhäusern warten. Im vergangenen Monat warteten 6,7 Millionen Patienten auf die Versorgung durch den staatlichen britischen Gesundheitsdienst (NHS), geht aus am Donnerstag veröffentlichten Daten hervor. Das ist die höchste Zahl seit Beginn der statistischen Aufzeichnungen im August 2007. Im Vormonat waren es noch 6,6 Millionen Wartende.