Ein Fotograf flüchtet vor einem Feuer in einem Getreidefeld nahe Kharkiv
AP/Mstyslav Chernov
Ukraine-Krieg

Die Brandspur der Verwüstung

Vor einem halben Jahr hat der jüngste Überfall der russischen Armee auf die Ukraine begonnen. Eine Datenbank des EU-Satellitenprogramms Copernicus zeichnet täglich die Spuren des Krieges nach und lässt das Ausmaß der Zerstörung erahnen. ORF.at hat die Daten analysiert.

Das European Forest Fire Information System (EFFIS) erfasst seit dem Jahr 2000 Daten zu Bränden in Europa und angrenzenden Regionen. Es veröffentlicht täglich eine Datei, in der anhand aktueller Satellitenaufnahmen verbrannte Gebiete dokumentiert werden. Sie enthält Angaben zur geografischen Verortung, Fläche in Hektar sowie dem Typ des Geländes, auf dem das Feuer gewütet hat, beispielsweise bebaute Gebiete, Wald oder landwirtschaftlich genutzte Fläche. Die Ursache des Feuers wird dabei nicht erfasst.

Brandflächen um Kiew von 24.2.2022 bis 5.7.2022. Um die Animation zu starten, drücken Sie bitte den Abspielknopf links oder bewegen Sie den Schieber unter der Karte. Zoom über Fingerbewegung (Touchscreen) oder Zoomwippe rechts.

Für die folgende Auswertung hat ORF.at die Datei vom 16. August verwendet. Sie umfasst 60.900 Datensätze zu einzelnen Bränden seit dem 1. Jänner 2000. Ab dem 13. März 2020 sind auch Brände erfasst, die auf das Staatsgebiet der Ukraine entfallen, inklusive der im Krieg 2014 verlorenen Gebiete im Donbas und auf der Halbinsel Krim. Insgesamt sind es 6.388 Brände. Die kleinsten erfassten Brände umfassen etwa einen Hektar, der größte 45.438 Hektar. Ein Hektar sind 0,01 Quadratkilometer.

Erst Waldbrände, dann der Krieg

Zunächst der Kontext für die Daten aus dem Krieg. Im Frühjahr 2020 tobten weitläufige Waldbrände im Norden der Ukraine, auch in der Sperrzone um das havarierte Kernkraftwerk Tschernobyl. Danach passierte wenig – bis zum Tag des russischen Überfalls am 24. Februar. Von den 6.388 registrierten Bränden ereigneten sich 4.595 nach diesem Datum.

Inklusive Donbas und Krim umfasst die Ukraine rund 600.000 Quadratkilometer (Österreich: rund 84.000 Quadratkilometer). Seit dem 13. März 2020 waren 4.429 Quadratkilometer, also rund 0,7 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets, von Bränden betroffen. Davon waren 3.369 Quadratkilometer als landwirtschaftlich genutzte Flächen klassifiziert. Zum Vergleich: Das Burgenland hat eine Fläche von rund 3.965 Quadratkilometer.

Gefilterte Gebiete

Für die Analyse der schwer umkämpften Gebiete der Ukraine wurden die Datensätze, die in folgende Oblaste fielen, entfernt: Winnyzja, Chmelnyzkyj, Riwne, Wolyn, Lwiw, Iwano-Frankiwsk, Tscherniwzi und Sakarpattja (Transkarpatien).

Eingrenzung der Analyse

Die Gesamtzahl der Brände in der EFFIS-Datei umfasst auch zahlreiche kontrollierte landwirtschaftliche Brände im Westteil der Ukraine, die nicht auf die Kampfhandlungen zurückzuführen sind. Um ein etwas genaueres Bild der Lage zu erhalten, wurden für die weitere Analyse jene Datensätze, die in die Westukraine fielen, entfernt (siehe das türkis umrandete Gebiet in der nächsten Karte und die Infobox).

Nun hat es auch in Regionen wie Lwiw Einschläge russischer Lenkwaffen gegeben, allerdings haben diese nicht zu weitläufigen Bränden wie in den Feldern der Südukraine geführt. Zudem wurden alle Datensätze, die vor dem 24. Februar 2022 angelegt wurden, entfernt.

Brände im Zentral- und Ostteil der Ukraine von 24.2.2022 bis 16.8.2022. Datei abgerufen am 16.8.2022.

Die gefilterte Datei umfasst 4.595 registrierte Brände. Der kleinste davon ist ungefähr einen Hektar groß, der größte 6.968 Hektar. Verbrannt sind im untersuchten Gebiet seit Beginn des russischen Angriffs rund 3787,81 Quadratkilometer, davon 2.828,81 Quadratkilometer landwirtschaftlich genutzte Fläche. Zum Vergleich: Das Bundesland Vorarlberg hat eine Fläche von rund 2.600 Quadratkilometern.

Laut Weltbank sind 413.290 Quadratkilometer der Ukraine – rund 71,3 Prozent ihres Staatsgebiets vor 2014 – als landwirtschaftlich genutzte Fläche klassifiziert. Die von Bränden betroffenen 2.828,81 Quadratkilometer landwirtschaftlicher Fläche in den Kriegsgebieten stellen also rund 0,7 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Fläche der Ukraine dar.

„Das ist eine extrem realistische Zahl“, so Roman Neyter, auf Landwirtschaft spezialisierter Ökonom am Center for Food and Land Use Research der Wirtschaftsuniversität Kyiv School of Economics (KSE), gegenüber ORF.at: „Die Modelle, mit denen auf Grundlage von Satellitendaten landwirtschaftliche Flächen erfasst werden, liefern ziemlich genaue Ergebnisse.“

Hoffnung auf mehr Export

Die deutsche „Tagesschau“ zitierte in einem Beitrag von 16. August den ukrainischen Vizeinfrastrukturminister Juryj Waskow mit der Einschätzung, die Ukraine werde im September 2022 drei Millionen Tonnen Getreide über ihre Seehäfen ausführen können. Das Exportniveau vor dem Krieg lag bei vier Millionen Tonnen pro Monat.

0,7 Prozent der Landwirtschaftsfläche, das sieht auf den ersten Blick nicht nach viel aus, die verbrannten Flächen sind aber nur einer von vielen Indikatoren für den Zustand des Landes.

Milliardenschäden für die Landwirtschaft

Neyter und seine Kollegen erstellten Mitte Juni im Auftrag des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums eine Studie, die den finanziellen Schaden des russischen Angriffs für den ukrainischen Agrarsektor bis zu diesem Zeitpunkt auf rund 4,29 Milliarden US-Dollar beziffert.

Neyter: „Sehr vorsichtig geschätzt befinden sich derzeit rund sechs Millionen Hektar landwirtschaftlicher Fläche unter russischer Besatzung oder in der unmittelbaren Kampfzone.“ Die KSE-Studie wurde noch vor dem Istanbuler Abkommen über Getreidelieferungen erstellt, das die Ukraine und Russland im Juli auf Vermittlung der Türkei abgeschlossen haben.

Überangebot auf Heimatmarkt

„Der Getreidemarkt wird von zwei großen Faktoren bestimmt: durch die Exportmöglichkeiten über die Seehäfen und durch die neue Ernte. Theoretisch könnten wir durch die Öffnung der Seehäfen viel mehr exportieren, aber bisher sind die Exporte seit der Öffnung eher zurückgegangen, und wir wissen noch nicht, ob wir so viel ausführen werden können, wie wir gehofft haben“, so Neyter. „Die Situation wird sich in den kommenden Wochen klären. Die neue Ernte wird das Überangebot im heimischen Markt weiter steigern. Außerdem kehren die Weltmarktpreise langsam wieder auf das Niveau von vor der Invasion zurück. Die Zahlen können derzeit in jede Richtung gehen.“ Neyters Institut wird voraussichtlich Ende September eine neue Schätzung veröffentlichen.

Verbrannte Wälder und Felder können sich regenerieren. Aber die Brände sind nur eine der vielen Kriegsfolgen für die ukrainische Landwirtschaft. Im Juni 2022 hat der Deutsch-Ukrainische Agrarpolitische Dialog eine ausführliche Studie über die „Gefahren durch Kampfmittel bei der landwirtschaftlichen Flächennutzung“ veröffentlicht.

Der Bericht veranschaulicht die Gefahren, mit denen sich ukrainische Bauern in der alltäglichen Arbeit in den betroffenen Gebieten konfrontiert sehen. Blindgänger, Sprengfallen und Minen machen die Feldarbeit lebensgefährlich.

Brandflächen im Osten der Ukraine von 10.3.2022 bis 8.8.2022. Um die Animation zu starten, drücken Sie bitte den Abspielknopf links oder bewegen Sie den Schieber unter der Karte. Zoom über Fingerbewegung (Touchscreen) oder Zoomwippe rechts.

Auch die Zerstörungen ganzer Städte wie Mariupol und Sjewjerodonezk durch die russische Artillerie und der Beschuss von Häusern durch Raketenangriffe spiegeln sich in den EFFIS-Daten entweder gar nicht oder nur indirekt, weil das auf die Analyse von Wald- und Flächenbrände optimierte System in bebauten Gebieten die betroffenen Flächen nicht immer erkennen kann. Die EFFIS-Datei bleibt aber ein wertvolles Dokument, mit dem sich die Kampfhandlungen im Zeitverlauf nachvollziehen lassen.