Strand

Sehnsuchtsort und Krisenlandschaft

Er vermittelt Urlaubsgefühl, signalisiert Erholung, ist ein Ort zum Träumen: Wie magisch zieht der Strand die Menschen an. Das war aber nicht immer so. Lange Zeit galt die Küste als ein Ort der Gefahr. Mit Blick auf Geflüchtete, die oft über den Seeweg europäisches Festland erreichen, bleibt der Strand bis heute ambivalent.

Die Journalistin und Autorin Bettina Baltschev reist in ihrem Buch „Am Rande der Glückseligkeit“ an acht europäische Strände – vom belgischen Ostende zum griechischen Lesbos. Mit ihrem Buch war sie für den heurigen Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Die Beweggründe Baltschevs waren zunächst persönliche – sie kannte Strände nur aus Büchern.

Im Interview mit ORF.at erzählt sie von ihrer Sehnsucht: „In meinem Kinderzimmer habe ich mich mit Schriftstellern an Strände geträumt.“ Weshalb der Strand für den Westen eine solche Verheißung ist, war etwas, dem die Autorin auf den Grund gehen wollte: „Der Strand ist überall. Wir finden ihn auf T-Shirts oder Kaffeetassen. Er wird mystifiziert, ist ein Symbol für Freiheit, Urlaub und Erholung.“

Der Strand als Erfindung

Aber was ist ein Strand? Je nachdem, wem man diese Frage stellt, wird man eine andere Antwort erhalten. Die Geologie würde ihn als „flaches Gelände zwischen Festland und Meer“ bezeichnen, für die anthropologische Definition hingegen würde der Mensch – und wie er auf die Küstenlandschaft einwirkt – relevant sein, heißt es in Baltschevs Buch. Doch bevor sich über die Bedeutung des Wortes „Strand“ streiten ließ, musste dieser überhaupt erst einmal erfunden werden.

Als nutzlose Leerflächen mit gefährlicher Nähe zum Meer galten Strände bis ins 18. Jahrhundert. „Es war der Rand der Welt und ein gefährlicher Ort, im Meer konnten Meeresungeheuer sein, die man aus der Bibel kannte. Und: Es gab einfach keinen Grund, ans Meer zu gehen“, sagt die Autorin im Gespräch mit ORF.at. Auch die Angst vor Stürmen oder Überschwemmungen hielt die Gesellschaft bis vor 300 Jahren noch vom salzigen, kühlen Nass ab.

Vom Fischerdorf zum „seaside resort“

Ihre literarische Reise setzt Baltschev in Scheveningen an, dem Stadtstrand Den Haags. Denn die Niederländer und Niederländerinnen macht die Autorin als diejenigen aus, die den Strand als Erholungsort entdeckt haben. „Die Niederlande sind schon immer sehr vertraut mit dem Meer. Sie haben ihm ihr Land zum großen Teil abgerungen, haben eine viel engere Beziehung zum Meer und waren die Ersten, die zum Vergnügen an den Strand gekommen sind.“

Kinder auf einem Strand in Pornic (Loire-Atlantique), 1902
picturedesk.com/Roger Viollet
Kinder auf einem Strand in Pornic (Loire-Atlantique), 1902

Doch auch in Deutschland zog man nach. 1793 fragte der deutsche Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg noch in seinem Aufsatz „Warum hat Deutschland noch kein öffentliches Seebad?“ und fand dabei in Christoph Wilhelm Hufeland, dem Leibarzt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III., einen Unterstützer.

Im selben Jahr eröffnete in Heiligendamm im heutigen Mecklenburg-Vorpommern das Erste Deutsche Seebad, und wenig später weitere an der Ost- und Nordsee. Zeitgleich entdeckten auch britische Aristokratinnen und Aristokraten die Heilkraft des Salzwassers für sich und Fischerdörfer wurden bald zu „seaside resorts“ ausgebaut.

Strandurlaube für die Oberschicht

Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann also die Erfolgsgeschichte des Strandes, wenn auch zunächst ausschließlich für das wohlhabende Bürgertum und den Adel. Maler haben das Idyll am Wasser festgehalten und in die Welt geschickt, die Menschen also vertraut mit jenem Ort gemacht, den man nun auch zum Vergnügen aufsuchte. Von da an gab es kein Halten mehr. Auch nach Kontinentaleuropa verbreite sich die Idee des heilenden Meerwassers während der nächsten Jahrzehnte. So wurden auch der österreichisch-ungarischen Oberschicht Strandurlaube verschrieben.

Buchhinweis

Bettina Baltschev: Am Rande der Glückseligkeit. Berenberg Verlag, 280 Seiten, 25,95 Euro.

Der Strand als Grenze

Nicht nur als Badeort, sondern auch als Stätte der politischen Machtdemonstration wurde der Strand immer beliebter. Schon seine natürliche Beschaffenheit macht ihn zu einer Grenze zwischen Festland und Meer. Das wussten Herrscher und Politiker seit jeher für sich zu nutzen. Zu DDR-Zeiten etwa war Hiddensee eine politische Grenze, sagt Baltschev: „Der Strand wurde ausgeleuchtet, Grenzer haben patrouilliert und darauf geachtet, dass niemand nach Dänemark abhaut.“ Die Außengrenze der DDR wurde mit Konsequenz kontrolliert.

Mit dem Strand als politische Grenze hat sich auch der französische Philosoph, Architekt und Stadtplaner Paul Virilio auseinandergesetzt. In seiner „Bunkerarchäologie“ widmete er sich 1975 den Wehrmachtshinterlassenschaften an der französischen Atlantikküste: dem von den Nationalsozialisten erbauten Atlantikwall, einer Tausende Kilometer langen Verteidigungsanlage, vor allem bestehend aus unzähligen Bunkern.

Vermintes Gelände

Die Strände waren zudem vermint, der riesige Abschnitt von La Boule etwa, der heute einen der längsten Badestrände Europas beheimatet, lag „verödet“. In seiner Jugend wäre der freie Zugang verboten gewesen, heißt es in Virilios Buch: „So sah ich das Meer zum ersten Mal im Sommer 1945.“ Erst nach Kriegsende war der freie, ideologisch unverstellte Blick auf das Meer wieder möglich, schreibt Virilio.

Migranten auf der Insel Lesbos
AP/Santi Palacios
Migrantinnen und Migranten auf einem Strand der Insel Lesbos

Grenze der Festung Europa

Dass ein Strand aber auch eine Grenze der Festung Europas sein kann, wird in der nördlichen Ägäis deutlich. Touristinnen und Touristen sowie Geflüchtete seien Menschen, die nichts trenne als die Orte ihrer Herkunft, sagt Baltschev. Das wird vor allem auf Lesbos deutlich, seit 2015 Brennpunkt der Migration – die „Grenze der Menschlichkeit“ laut Baltschev. „Während Touristen aus Europas Norden (…) kommen, um der Welt den Rücken zu kehren, erreichen sie (die Geflüchteten, Anm.) eben diese Welt von vorn, vom Meer her“, schreibt sie in ihrem Buch.

Für Migranten und Migrantinnen ist das Ankommen am Strand ein Ankommen auf dem europäischen Festland nach einer lebensgefährlichen Meeresüberfahrt im Schlauchboot. Für sie ist der Strand Hoffnungsträger.

Schwindender Ort

Strände sind nicht nur politisch aufgeladen: Sie verschwinden zudem. So wie Regenwälder sind auch sie Naturgebiete, die sich die Menschheit aneignet – mit katastrophalen Folgen. Nicht nur der steigende Meeresspiegel und weitere klimakrisenbedingte Umstände setzen den Küstenstreifen zu. Der Strand, oder besser gesagt Sand, ist einer der beliebtesten Rohstoffe für die Bauindustrie. Der Handel damit ist höchst lukrativ, führt zu illegalem Küstenabbau.

Meeressand wechselt schon mal den Kontinent oder legt weite Strecken zurück, wird etwa von Australien nach Dubai oder Indonesien nach Singapur exportiert, um dort den perfekten Sandstrand zu füllen – das ist einem Bericht des UNO-Umweltprogramms (UNEP) aus dem Jahr 2014 zu entnehmen. Der Abbau ganzer Strände hat Folgen für das Ökosystem. Auch der Massentourismus sorgt durch Zerstörung von Lebensräumen vieler Tiere und Pflanzen für die Gefährdung der Naturstrände.

Anderer Blick auf Sommeridyll

In nur 300 Jahren hat das menschliche Vergnügen dem Strand ganz schön zugesetzt. Baltschev hat mit ihrer Kulturgeschichte alles andere als eine leichte Sommerlektüre geschrieben – ganz bewusst. „Wenn man sich einmal mit der Strandgeschichte beschäftigt hat, wird man anders am Strand sitzen. In dem Moment, wo man seine Kulturgeschichte kennt, bekommt er ein anderes Profil.“

Der Strand ist also weit mehr als ein Ort der Idylle und Sommerromantik. „Das bedeutet nicht, dass man dort nicht trotzdem Glückseligkeit finden kann“, sagt Baltschev. Angesichts seiner Geschichte eben nur am Rande.