Abwasserkanal am Meer
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Kanalproblem

Britisches Abwasser erzürnt Frankreich

Großbritannien hat schon länger mit einem üblen Problem zu kämpfen: Ein bei Starkregen überlastetes Kanalsystem führt dazu, dass Abwässer ungebremst ins Meer, in Seen und Flüsse geleitet werden. Was bisher vor allem an der britischen Küste zum Ärgernis wurde, nimmt langsam internationale Dimensionen an: Mittlerweile zürnt auch Frankreich und wirft Großbritannien vor, seine Küsten zu verschmutzen.

Indem Großbritannien zulasse, dass Abwässer ungefiltert in den Ärmelkanal und die Nordsee fließen, würden Flora und Fauna der französischen Gewässer und auch die Gesundheit der Menschen bedroht, warfen drei französische EU-Abgeordnete laut BBC Großbritannien vor. Die Regierung der Insel missachte seit dem Brexit den Umweltschutz, klagen die Abgeordneten in einem Brief an die EU-Kommission. Sie gehören der Partei von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, En Marche, an. Die Kommission kündigte an, sie werde bald auf die Beschwerde reagieren. Noch habe die Brüsseler Behörde dazu aber „keine Kontakte“ zu den britischen Behörden gehabt, so ein Sprecher.

Ein Sprecher der britischen Regierung wies die Vorwürfe zurück und bezeichnete sie als „schlicht nicht wahr“. Man sei zwar nicht mehr EU-Mitglied, doch über verschiedene UNO-Konventionen zur Reinhaltung des Wassers verpflichtet. Allerdings zeigten jüngst Daten der Umweltbehörde Environmental Agency, dass sich die Menge der ungeklärt abgeleiteten Abwässer zwischen 2016 und 2021 beinahe verdreißigfacht hat. Auch sonst kann die Regierung nicht leugnen, dass Großbritannien ein gravierendes Abwasserproblem hat.

Verschmutzungswarnung für 50 Strände

Derzeit gibt es für fast 50 Strände eine Verschmutzungswarnung, schon seit Wochen klagen Menschen nach Küstenbesuchen über verdreckte Strände und vorbeischwimmenden Unrat. Im südostenglischen Whitstable wurde gar die Austernernte eingestellt, da nach dem Verzehr Noroviren-Symptome auftraten. Fachleute warnen, dass Schwimmen im offenen Wasser zu Magen-Darm-Erkrankungen und anderen Infektionen führen könnte.

Das Problem ist derzeit besonders schlimm, und schuld daran ist das britische Kanalsystem. In diesem werden Regenwasser und Abwässer in denselben Rohren zu Kläranlagen geleitet. Das System ist der Bevölkerungsgröße kaum noch gewachsen, vor allem bei starken Regenfällen ist die Kapazität zum Teil nicht ausreichend.

Böden nehmen zu wenig Wasser auf

Das Problem ist kein neues, tritt aber heuer besonders stark auf. Die extreme Hitzewelle mit bis zu 40 Grad hat die Böden in Großbritannien vielerorts vollkommen ausgetrocknet, sie können nun weniger Wasser aufnehmen. Weil das zum Überlaufen von Kläranlange und damit zur Überflutung von Häusern und Straßen führen könnte, darf gelegentlich ungeklärtes Abwasser direkt in das Meer und die Flüsse geleitet werden – das nutzten zuletzt etliche Kläranlagen.

Starke Regenfälle in London
Reuters/Hannah McKay
Schwere Niederschläge strapazieren das Abwassersystem

Die EU-Kommission hatte bereits 2012 vor Gericht versucht, die Abwasserableitung einzuschränken. Damals kam das Gericht zu dem Schluss, dass ungeklärte Ableitungen nur unter „außergewöhnlichen“ Umständen wie nach schwerem Regen stattfinden dürfen.

Hohe Dunkelziffer vermutet

Davon kann heute keine Rede sein – und von einer hohen Dunkelziffer bei abgeleitetem Wasser wird ausgegangen. Rund ein Viertel der Abwässer sei im vergangenen Jahr unüberwacht ins Meer gespült worden, weil Kontrollanlagen nicht funktionieren, ergab eine Auswertung der oppositionellen britischen Liberaldemokraten. „Das ist ein nationaler Skandal, und diese neuen Zahlen stinken nach Vertuschung“, so der umweltpolitische Sprecher der Partei, Tim Farron.

Der Umweltsprecher warf den privatisierten britischen Abwasserunternehmen schweres Versagen vor – und sogar diese geben zu, dass das britische Abwassersystem eine Generalerneuerung brauchte. Eine vollständige Trennung zwischen Regen- und Abwasser würde laut den Behörden aber zwischen 350 und 600 Milliarden Pfund (415 bis 711 Mrd. Euro) kosten und die Nebenkosten pro Haushalt jährlich um bis zu 1.000 Pfund (1.185 Euro) erhöhen.

Wesentlich geringer fallen Strafen für Verschmutzung aus: Im vergangenen Jahr musste etwa der Wasserversorger Southern Water 90 Millionen Pfund (106 Mio. Euro) zahlen, weil er unrechtmäßig ungeklärtes Wasser in Flüsse und Meer geleitet hatte.

Torys gegen strengere Gesetze

Zu den Kritikern des Systems gehört auch Umweltaktivist Stanley Johnson, Vater des scheidenden Premierministers Boris Johnson. Im Gespräch mit seiner Tochter Rachel Johnson im Radiosender LBC kritisierte er die Regierung in der Causa Abwässer scharf. Sie habe sich nicht ausreichend darum gekümmert, die Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen.

Johnsons Torys hatten im vergangenen Herbst eine Änderung des Umweltgesetzes verweigert, die Wasserunternehmen gesetzlich dazu verpflichtet hätte, kein Abwasser mehr in Flüsse zu pumpen. Die Favoritin für Johnsons Nachfolge, Liz Truss, hatte zudem laut einem Bericht der Zeitung „The Guardian“ als Umweltministerin einst Millionen Pfund gestrichen, die für den Kampf gegen Wasserverschmutzung geplant waren. Sie sagte, es brauche im Wassersektor mehr Transparenz, mehr Investitionen und Überwachung.