Russische Soldaten auf einem Panzer
Reuters/Alexander Ermochenko
Armeeaufstockung

Experten sehen Hürden für Putins Plan

Der russische Präsident Wladimir Putin hat am Donnerstag ein Dekret zur Aufstockung der russischen Armee unterzeichnet. Fachleute sind allerdings skeptisch, dass Putin sein Ziel erreicht, und sehen mehrere Gründe dafür. Doch die Aufstockung könnte auch durch die Integration der Separatistenmilizen im Donbas in die russische Armee erfolgen.

2023 soll die Armeestärke insgesamt mehr als zwei Millionen Menschen erreichen, wie aus dem veröffentlichten Dekret hervorgeht. Alleine die Zahl der Soldaten – dazu zählen sowohl Vertragssoldaten als auch Wehrdienstleistende – soll um 137.000 auf rund 1,15 Millionen erhöht werden. Bei den restlichen Militärangehörigen handelt es sich um Zivilpersonal, zum Beispiel Verwaltungsangestellte.

Eine offizielle Begründung für die Vergrößerung wurde vom Kreml nicht genannt. Doch es könnte schwer werden, das von Putin gesteckte Ziel der Aufstockung überhaupt zu erreichen, wie etwa der russische Militärexperte Pawel Lusin dem britischen „Guardian“ sagte. Moskau werde Schwierigkeiten haben, die Zahl der Soldaten zu erhöhen. „Dieses Dekret widerspricht der Realität an Ort und Stelle“, so Lusin weiter. So hat die russische Armee bereits seit geraumer Zeit Rekrutierungsprobleme, woran auch das Dekret nichts ändern könne, vermuten auch andere Fachleute.

Russische Soldaten bei einer Militärparade
AP/Alexandr Kulikov
Russische Soldaten bei einer Militärparade

Separatistenmilizen könnten eingegliedert werden

„Meiner Ansicht nach deutet die Anordnung nicht unbedingt auf einen größeren Entwurf oder eine größere Mobilisierung hin“, so Michael Kofman, Direktor für russische Studien am CNA, einem Forschungsinstitut in Arlington im US-Bundesstaat Virginia, dessen Twitter-Beitrag die „New York Times“ zitiert. „Es könnte eine Möglichkeit sein, den verschiedenen aktuellen Rekrutierungsbemühungen Rechnung zu tragen“ – also quasi die mehr oder weniger inoffiziellen Anheuerungsmaßnahmen der letzten Zeit zu formalisieren und eben in dem Dekret zusammenzufassen.

So könnte der Kreml mit der Maßnahme planen, die bisherigen Hilfstruppen, etwa Separatistenmilizen in den selbst ernannten, von der Ukraine abtrünningen „Volksrepubliken“ im Donbas, in die reguläre russische Armee einzugliedern, so Kofman weiter – „insbesondere wenn Russland die Annexion“ dieser Regionen durchziehe.

Vladimir Putin
AP/Mikhail Klimentyev
Der russische Präsident Wladimir Putin will per Dekret mehr Soldaten für die russische Armee schaffen

Expertin: Bezweifle, dass sie es schaffen können

„Das ist kein Schritt, den Sie unternehmen, wenn Sie ein schnelles Ende Ihres Krieges erwarten“, sagte Dara Massicot, leitende Politologin in dem die US-Armee beratenden US-Thinktank RAND Corporation, in der „New York Times“. „So etwas macht man, wenn man einen Plan für einen langwierigen Konflikt hat.“ Es sei eine beunruhigende Ankündigung, „aber ich bezweifle, dass sie es durchziehen können“.

Laut Kreml-Darstellung geht in dem Krieg alles „nach Plan“. Internationale Militärexperten bescheinigen Russland jedoch ein nur schleppendes Vorankommen und gehen von hohen Verlusten der russischen Truppen aus. Die Rede ist von bis zu 80.000 getöteten bzw. verletzten Soldaten. Moskau selbst hat schon lange keine Angaben mehr zu Toten und Verletzten in den eigenen Reihen gemacht.

Russische Soldaten auf einem Panzer
Reuters/Maxim Shemetov
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu

Schoigu: Absichtlich verlangsamt

Die Verlangsamung der russischen Offensive ist laut dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu Absicht. „Es wird alles getan, um Opfer unter den Zivilisten zu vermeiden“, sagte Schoigu bei einem Treffen von Verteidigungsministern der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Usbekistan am Mittwoch. „Natürlich verlangsamt das die Geschwindigkeit der Offensive, aber wir machen das mit Absicht.“ Westliche Militärexperten sehen das anders – und nicht als Absicht Russlands.

Auch der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes stößt in dasselbe Horn. Ihm zufolge „lahmt“ die russische Offensive. „Russland hat das Tempo seiner Angriffe recht stark verlangsamt“, sagte Kyrylo Budanow am Mittwoch. „Der Grund dafür ist die Erschöpfung der Ressourcenbasis sowie eine Ermüdung von Moral und Physis durch die Kämpfe“, sagte er.

Verschiedene Rekrutierungsmaßnahmen

Russland versucht offenbar seit geraumer Zeitauch mehr Männer in den Provinzen zu rekrutieren und verspricht dafür hohe Summen – offenbar mit wenig Erfolg. Auch würden die versprochenen Summen etwa im Todesfall so gut wie nie an die Familien ausgezahlt. Rekrutiert werden soll laut westlichen Medien auch in Gefängnissen. Die Rekrutierungsstandards seien offenbar immer wieder gesenkt worden, was auch bei russischen Offizieren für Unmut sorgen soll.

Milizsoldaten der Wagner-Gruppe
AP/French Army
Söldner der Wagner-Truppe, hier in Mali

Russland greift auch vermehrt auf Söldner der Wagner-Gruppe zurück. Sie kämpfen nun in der Ukraine nach Einschätzung Großbritanniens in enger Abstimmung mit regulären russischen Einheiten. Den Kämpfern sei vermutlich die Verantwortung für eigene Frontabschnitte übergeben worden, wie sie sonst reguläre Armee-Einheiten übernehmen, teilte das Verteidigungsministerium in London Anfang August unter Berufung auf Geheimdienstinformationen mit.

„Das stellt eine bedeutende Änderung im Vergleich zu vorherigen Einsätzen der Gruppe seit 2015 dar, bei denen sie typischerweise Missionen durchführte, die sich von offenen, großangelegten regulären russischen Militäraktivitäten unterschieden“, hieß es. Diese Integration untergrabe die jahrelangen Behauptungen der russischen Regierung, es gebe keine Verbindungen zwischen dem Staat und privaten Söldnerfirmen.

„Eklatanter Mangel an Infanterieeinheiten“

Bereits zuvor hatte es offiziell unbestätigte Berichte gegeben, wonach die Wagner-Gruppe mit der russischen Regierung verstrickt ist. Sie soll auch schon in Syrien, der Zentralafrikanischen Republik und früher in der Ukraine gekämpft haben.

Die Rolle habe sich vermutlich deshalb verändert, weil die russischen Streitkräfte einen eklatanten Mangel an Infanterieeinheiten auszugleichen versuchten, hieß es vom Verteidigungsministerium in London. Allerdings sei es „höchst unwahrscheinlich“, dass die Wagner-Kräfte ausreichten, um den Verlauf des Krieges wesentlich zu verändern, hieß es in London weiter.

Der britische Geheimdienst veröffentlicht seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Ende Februar täglich in beispielloser Form Informationen zum Kriegsverlauf. Damit will die britische Regierung sowohl der russischen Darstellung entgegentreten als auch Transparenz im Gegensatz zu Moskau zeigen. Moskau wirft London eine gezielte Desinformationskampagne vor.