Ein Gletscher in Österreich
Daniel Schrott
Gletscherschmelze

Negativrekorde schon vor Sommerende

Die 900 Gletscher Österreichs schrumpfen schneller denn je. Bereits vor dem Ende des Sommers steht fest, dass es auf manchen Gletschern Negativrekorde geben wird. Die Eisschmelze fällt auch deswegen so enorm aus, weil Winter und Frühjahr besonders schneearm waren.

Einen Meter Eis verlieren Österreichs Gletscher im Durchschnitt jedes Jahr an Mächtigkeit. Heuer fällt der Massenverlust deutlich stärker aus. Denn der schlimmste aller möglichen Fälle ist eingetreten. Auf den schneearmen Winter folgte ein trockenes Frühjahr, und der Sommer zählt auf den Bergen zu den heißesten seit Messbeginn.

Auf dem Hohen Sonnblick in 3.109 Meter Höhe in den Hohen Tauern lag die mittlere Temperatur von Juni bis August bei 4,5 Grad, der Mittelwert der Jahre 1961 bis 1990 betrug 1,0 Grad. Erstmals seit Messbeginn im Jahr 1938 lag heuer schon am 6. Juli kein Schnee mehr auf dem Sonnblick. Ein trauriger Rekord: Der bisher früheste Termin ohne Schneedecke war der 13. August (2003 und 1963).

Weniger Frostnächte verzeichnet

Im Klima des vergangenen Jahrhunderts war noch jede zweite Sommernacht auf den Gletschern frostig, heuer nur jede vierte, und wochenlang blieben die Temperaturen sogar durchgehend im Plus. Auf bis zu 14,1 Grad stieg die Temperatur im Laufe des Sommers.

Observatorium am Sonnblick
ZAMG
Die Messstation auf dem Sonnblick

Die Messungen auf dem Sonnblick stehen in diesem Sommer beispielhaft für fast alle Gletscher im Alpenraum: Es war sehr warm, die Niederschläge fielen fast nur in Form von Regen. Schneefälle, die zumindest kurzfristig Entspannung bei der Eisschmelze gebracht haben, waren selten.

Zum Teil doppelte Abschmelzung

Den Gletschern geht es heuer an die Substanz. Das Schmelzwasser gräbt sich tief ins dunkle, schmutzige Eis. Von den Felswänden donnern immer wieder Steine. Auch die Schneerücklagen der vergangenen Jahre schwinden längst, und mancherorts kommen bisher verborgene Felsinsel zum Vorschein. Eis schmilzt schneller als Schnee, zudem sind die Gletscher mit Staub und Sand bedeckt. Dieser Schmutz treibt die Schmelze weiter an.

„Den bisherigen Rekord haben wir in manchen Gebirgsgruppen schon überschritten“, sagt Andrea Fischer von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Die Landschaft verändert sich. So ist auf dem Jamtalferner in Tirol durch die enorme Schmelze und den Rückgang des Gletschers ein neuer See entstanden. Der Gletscher schmilzt seinem baldigen Ende entgegen. In etwa fünf Jahren könne das schon passieren.

An der Weißseespitze in den Ötztaler Alpen in Tirol, dem höchsten Punkt des Gepatschferners, ist auf 3.500 Metern seit Anfang August kein Schnee vom letzten Winter mehr. „Es gibt hier schon die doppelte Abschmelzung der bisherigen Extremjahre“, so die Forscherin. Am Gepatschferner wurde unlängst auch eine 500 Jahre alte mumifizierte Gämse gefunden. Der Gletscher ist nach der Pasterze der zweitgrößte Gletscher Österreichs.

Der Jamtalferner nahe Galtür
Österreichische Akademie der Wissenschaft
Auf dem Jamtalferner in Tirol entstand ein neuer See

In den Tauern entscheidet der September

Bei der Pasterze (Kärnten) zeigen aktuelle Aufnahmen ebenfalls eine dramatische Entwicklung. Die Zunge, der unterste Bereich des Gletschers, fällt zunehmend in sich zusammen, ähnlich wie ein Luftballon, dem die Luft ausgeht. Außerdem wird die Verbindung der Zunge mit den obersten Bereichen des Gletschers immer dünner.

„Bei den Gletschern in den Hohen Tauern wird der September entscheiden, ob die Bilanzen negativer als beim Rekordsommer 2003 werden“, ergänzt Bernd Seiser von der ÖAW. Bei den Gletschern am Dachstein gehe auch alles Richtung Rekorde, aber hier müsse man auch noch die nächsten Wochen abwarten. Je länger es im September noch warm bleibt und je später es im Hochgebirge schneit, desto negativer fällt die Bilanz dieses Sommers aus.

Negativrekorde auch in der Schweiz

Als „perfekten Sturm“ bezeichnet der Schweizer Gletscherforscher Matthias Huss den Sommer für die Alpengletscher. Die heiße und trockene Witterung hat bei vielen Gletschern, die in der Schweiz wissenschaftlich untersucht werden, schon jetzt frühere Rekorde gebrochen. Mit natürlicher Schwankung habe der heurige Sommer nichts mehr zu tun.

Eine vor wenigen Tagen erschienene Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) zeigt, dass die Schweiz zwischen 1931 und 2016 schon knapp die Hälfte ihres Gletschereises verloren hat. Seit 2016 hat sich der Eisschwund dem Gletschermessnetz Glamos zufolge sogar noch beschleunigt: In den letzten sechs Jahren schrumpfte das Eisvolumen um weitere zwölf Prozent. Die gesamte Gletscherfläche in der Schweiz betrug 2016 noch 961 Quadratkilometer und war mehr als doppelt so groß wie die Gletscher in Österreich.

Gletscherfläche in Österreich deutlich zurückgegangen

Auch in Österreich haben die Gletscher in den vergangenen Jahrzehnten viel von ihrer Masse eingebüßt. Beim Gletscherinventar 1969 war noch eine Fläche von 565 Quadratkilometern vergletschert, bei der letzten Erhebung mit Daten aus den Jahren 2004 bis 2012 ist die Fläche schon auf 415 Quadratkilometer zurückgegangen.

Die aktuelle Fläche dürfte schon deutlich unter 400 Quadratkilometern liegen. So verloren alleine die 46 Gletscher in der Silvretta (Tirol und Vorarlberg) zwischen den Messungen 2004/2006 und 2017/2018 fast ein Drittel ihrer Fläche.

Anzahl der Gletscher konstant – noch

Während die Flächen schrumpfen, bleibt die Gesamtzahl der Gletscher mit 900 relativ konstant. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich aber einfach erklären. Der eine oder andere kleinere Gletscher ist in den vergangenen Jahren schon für immer verschwunden. Doch durch die Schmelze zerfallen größere Gletscher in mehrere kleinere. So wurde etwa das Obersulzbachkees (Salzburg) in mehrere Gletscher geteilt – in das Venedigerkees, das Sulzbacherkees, das Obersulzbachkees, das Krimmlertörlkees sowie das obere und untere Bleidächerkees.

Das Obersulzbachkees
Alpenverein
Das Obersulzbachkees in Salzburg teilte sich

Der Zerfall von größeren Gletschern und das Verschwinden kleinerer hält sich zumindest derzeit noch numerisch die Waage. Das wird sich aber in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ändern. Schon das aktuelle Klima ist, so zeigt es der heurige Sommer, für die Gletscher im Ostalpenraum zu warm. Sind die Gletscher einmal weg, verlieren die Berge ihre Gesichter, und übrig bleibt nur eine Steinwüste. Gletscherforscherinnen und Gletscherforscher sind heute nur noch Nachlassverwalter einer untergehenden Epoche.