Ukrainische Soldaten
EVN
Cherson

Gegenangriffe mit Kalkül

Am Montag hat die Ukraine ihre Angriffe auf den von russischen Truppen besetzen Süden des Landes, vor allem auf die Stadt Cherson und die Umgebung, merklich verstärkt. Vom Start einer Gegenoffensive ist die Rede, doch nicht alle Experten wollen den Begriff bereits verwenden. Militäranalysten meinen jedenfalls, dass der Gegenschlag seit Wochen vorbereitet wurde – vor allem der Fluss Dnipro spielt dabei eine wesentliche Rolle. An schnelle Erfolge glaubt niemand. Und auch die Ukraine selbst dämpft die Erwartungen.

Nach Angaben aus Kiew seien in der Region „schwere Kämpfe“ ausgebrochen. Es habe „den ganzen Tag und die ganze Nacht über starke Explosionen“ gegeben, erklärte das Büro von Präsident Wolodymyr Selenskyj am Dienstag. „Fast das gesamte Gebiet“ der Region Cherson sei betroffen.

Die ukrainischen Streitkräfte hätten „Offensiven in unterschiedliche Richtungen“ gestartet, hieß es aus Kiew weiter. Mit genaueren Meldungen zur Lage hielt sich das ukrainische Militär zurück. Die Pressesprecherin des Südkommandos der ukrainischen Armee, Natalija Humenjuk, sprach am Dienstag von „Positionskämpfen“ in den Gebieten Mykolajiw und Cherson. Es sei dabei noch zu früh, um von möglichen zurückeroberten Orten zu reden. „Es finden gerade Kämpfe statt, und diese erfordern eine Informationsruhe.“

Angeblich Ortschaften zurückerobert

Während die Ukraine bereits am Montag von Frontdurchbrüchen gesprochen hatte, erklärte Russland den Vorstoß für „erbärmlich gescheitert“. Die ukrainischen Soldaten hätten bei ihren Vorstößen in den Regionen Mykolajiw und Cherson deutliche Verluste erlitten, meldete das Verteidigungsministerium in Moskau.

Mehrere russische Militärblogger sowie andere Medien vermeldeten hingegen laut dem US-Thinktank Institute for the Study of War, dass fünf Ortschaften zurückerobert worden seien. Zudem gibt es Berichte über gezielte Schläge auf russische Munitionsdepots.

Das britische Verteidigungsministerium erklärte in einer Sicherheitsmitteilung, der „Umfang des ukrainischen Vorstoßes“ könne zwar nicht bestätigt werden. Die ukrainische Armee habe aber das „Artilleriefeuer an Frontabschnitten in der ganzen Südukraine erhöht“, um russische Versorgungslinien mit „Präzisionsschlägen mit hoher Reichweite“ zu unterbrechen. In seiner Einschätzung vom Mittwoch meldete das britische Verteidigungsministerium, dass ukrainische Verbände die Front der russischen Truppen im Süden stellenweise zurückgedrängt haben.

Suche nach russischen Schwachstellen

Da die ukrainischen Angriffe verteilt entlang einer mehr als 150 Kilometer langen Front, vom Flussdelta Dnipro-Bug-Liman bis zum Westufer des Kachowkaer Stausees, erfolgen, vermutet Phillips Payson O’Brien, Professor für Militärstrategie an der schottischen Universität St. Andrews, eine „Sondierungsoperation“, um Schwachstellen zu finden. Einen durchschlagenden ukrainischen Durchbruch erwartet er vorerst nicht.

Er verweist allerdings wie auch andere Militäranalysten darauf, wie die Vorstöße in den vergangenen Wochen vorbereitet wurden: Die ukrainische Armee hatte vor allem die Brücken über den Dnipro in der Gegend rund um Cherson ins Visier genommen. Die beiden wichtigsten Straßenbrücken – die Antoniwsky- und die Dariwka-Brücke – sind laut übereinstimmenden Berichten nicht mehr für russischen Militärnachschub brauchbar, auch die wichtigste Eisenbahnbrücke in der Region sei beschädigt. Damit ist die Stadt – und auch die gesamte Region nördlich bzw. westlich des Flusses – praktisch vom russischen Nachschub abgeschnitten. Nur mit Fähren und Behelfsbrücken kann der Fluss derzeit überquert werden.

Grafik zu umkämpften Gebieten in der Ukraine
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: ISW/liveuamap

Auch London sieht Brücken als wichtigen Faktor

Das heißt in weiterer Folge aber auch, dass sich russische Truppen nicht mehr weiter nach Süden zurückziehen könnten, sollte die ukrainische Offensive tatsächlich deutlich an Fahrt gewinnen. Eine dementsprechend äußerst optimistische Einschätzung kommt auch von der „Kyiv Post“, die noch dazu anmerkt, dass auch „Partisanen“ hinter der russische Front die Angriffe der ukrainischen Armee mit gezielten Anschlägen unterstützen würden.

Personal- und Nachschubprobleme auf der russischen Seite ortet auch das britische Verteidigungsministerium in seinem täglichen Geheimdienstupdate am Dienstag. Seit Anfang August habe Russland zwar erhebliche Anstrengungen unternommen, um seine Kräfte am Westufer des Dnipro um Cherson herum zu verstärken. Die Einheiten im Süden seien wohl durch Truppenteile aus dem Osten ergänzt worden, was eine grundsätzliche Neuorganisation der Kommandostrukturen nahelege. Die meisten Einheiten um Cherson seien jedoch wohl weiterhin unterbesetzt und hingen von brüchigen Nachschublinien per Fähre und Pontonbrücken ab.

Südfront für Ukraine aus mehreren Gründen wichtig

Dass die Ukraine im Süden Gegenschläge unternehmen wird, war seit Langem klar – genauso wie die Gründe dafür. Die Verteidigung der zu Kriegsbeginn eroberten Region wurde vor allem prorussischen Separatisten, davon viele Reservisten, überlassen, die als schlecht ausgebildet und ausgerüstet gelten. Das ist nicht nur eine westliche Einschätzung: Igor Girkin, Kampfname Strelkow, ehemaliger militärischer Anführer der „Volksrepublik“ Donezk, warnte bereits im Mai vor dieser Schwachstelle. Der Ex-Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes FSB gilt als Ultranationalist, er fordert von Russland eine Generalmobilmachung, um den Krieg effizienter zu gestalten.

Mit den Angriffen erzwang die Ukraine aber eben auch eine Regruppierung der russischen Truppen. Indem Einheiten aus dem Donbas Richtung Süden verlagert wurden, erhoffte man sich, die Dynamik im Osten, den langsamen aber dennoch fortschreitenden Raumgewinn der russischen Truppen, bremsen zu können. Und schließlich wollte die Führung in Kiew auch verhindern, dass in den besetzten Gebieten Referenden über die Zugehörigkeit zu Russland abgehalten werden können. Moskau hat dort den Rubel als Währung eingeführt und ermutigt die Bewohnerinnen und Bewohner, sich einen russischen Pass ausstellen zu lassen.

Vorstöße als Signal

Der US-Militärexperte Michael Kofman, derzeit zu Gast beim Europäischen Forum Alpbach, sagte im Ö1-Interview, die Ukraine wolle mit den Angriffen auch verhindern, dass die verstärkten russischen Truppen im Süden ihre Verteidigungspositionen noch besser ausbauen können.

Aber auch politisch seien die Vorstöße zu erklären: Kiew müsse militärische Erfolge vorweisen. „Eine Offensive wäre ein Zeichen an die westlichen Partner, dass das Land sich nicht nur verteidigen, sondern auch selbst aktiv werden kann.“ Und die Offensive wäre auch ein Signal, dass Russland das Gebiet um Cherson nicht einfach annektieren könne. Ähnlich äußerte sich der australische Ex-General und Militärexperte Mick Ryan: Ein Gegenangriff sei auch ein Signal an Russland und an die russischen Truppen, nicht zuletzt, um deren Kampfmoral zu schwächen.

Kofman bleibt jedenfalls bei seiner Einschätzung vorsichtig: Mit einem Angriff habe die Ukraine die Chance, „die Dynamik in diesem Krieg zu verändern“ und quasi die Initiative in die eigene Hand zu nehmen. Wie erfolgreich das sein werde, hänge aber „von vielen verschiedenen Faktoren“ ab – vor allem von der weiteren militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung des Westens.