Eine große chilenische Fahne liegt am Strand von Valparaiso
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Ausgang ungewiss

Stichtag für Chiles neue Verfassung

Mit rund 80 Prozent der abgegebenen Stimmen hat sich im Oktober 2020 eine überwältigende Mehrheit für eine neue Verfassung und damit eine radikale Neuausrichtung Chiles ausgesprochen. Am Sonntag steht nun die Abstimmung über die Annahme („Apruebo“) oder Ablehnung („Rechazo“) eines neuen Verfassungsentwurfs an – und ob die von einer verfassungsgebenden Versammlung monatelang ausgearbeitete neue Magna Charta angenommen wird, ist alles andere als ausgemachte Sache.

Vielmehr liegt das „Rechazo“-Lager seit Wochen in Umfragen mit teils deutlichem Vorsprung in Führung. Erwartet wird dennoch ein enges Rennen, wobei unter den rund 14,8 Millionen Wahlberechtigten möglicherweise viele erst in der Wahlkabine entscheiden, ob sie für die neue Verfassung stimmen oder nicht. Hintergrund ist der weiterhin große Anteil unentschlossener Wählerinnen und Wähler, wie etwa das Nachrichtenportal Lateinamerika (NPLA) berichtet.

Unmittelbar vor der mit Spannung erwarteten Abstimmung mobilisierte das Apruebo-Lager in der Hauptstadt Santiago de Chile Hunderttausende Menschen und sorgte damit mit einem lautstarken Kampagnenfinale. Nach Angaben von „El Pais“ zogen rund eine halbe Million Befürworter der neuen Verfassung durch die Stadt und skandierten „Zustimmung für ein besseres Leben“.

Kundgebung in Santiago, Chile
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Das Ja-Lager mobilisierte für die Abschlussveranstaltung in Santiago rund eine halbe Million Menschen

Abschlussveranstaltungen gab es auch aufseiten des Nein-Lagers – unter anderem auf dem Gipfel von Santiagos San-Cristobal-Hügel mit überschaubaren 500 Teilnehmern. Man habe gezielt eine „einfache, bürgerliche Aktion“ geplant, zitierte „El Pais“ einen Mitarbeiter der Kampagne, zu deren Wahlkampffinale vor allem Vertreterinnen und Vertreter von rund 60 unterstützenden zivilen Organisationen kamen.

Berichte über umfassende Desinformationskampagne

Während die Befürworter sich mehr Gerechtigkeit, Teilhabe und Demokratie erhoffen, schüren die Gegner etwa Ängste vor einem Abgleiten in den Sozialismus. Vielen geht der neue Verfassungstext schlichtweg zu weit, andere kritisierten indes auch die Arbeit des im Vorjahr eingesetzten Verfassungskonvents. Diesem sei es nicht gelungen, die breite Bevölkerung einzubinden, wie etwa der chilenische Politologe Juan Pablo Luna gegenüber der ARD-Tagesschau sagte.

Das Verfassungsprojekt maßgeblich in Gefahr gebracht haben könnten – vor allem in sozialen Netzwerken kursierende – „katastrophale Unwahrheiten“ über den Entwurf, die auch Präsident Gabriel Boric beklagte. Laut der Statistikerin Paulina Valenzuela vom Meinungsforschungsinstitut Datavoz drehten sich die viral verbreiteten „Fake News“ zunächst um die verfassungsgebende Versammlung und deren Zusammensetzung, später wurde der Entwurfstext selbst zur Hauptzielscheibe – und die Palette der auf Facebook, Twitter, TikTok und Co. verbreiteten falschen Behauptungen reicht von einem drohenden Verbot von Privatbesitz über eine drohende „indigenistische“ Diktatur bis hin zu Abtreibungen bis zum neunten Schwangerschaftsmonat.

„Chile kämpft mit einer Flut von ‚Halbwahrheiten‘, während die Verfassungsabstimmung näher rückt“, twitterte dazu etwa Marcelo Mendoza von der Universitad Catolica de Chile. Weil es sich um einen Gesetzestext handelt, der nun einmal offen für gewisse Interpretationen ist, verschwamm die Grenze zwischen wahr und falsch. Wilden Laiendiskussionen war Tür und Tor geöffnet. Faktenchecker und Experten brauchten oft mehrere Tage, um übertriebene Behauptungen und blanke Mutmaßungen aufzuklären.

„Es schmerzt uns sehr, wenn eine Überprüfung Tage dauert und wir wissen, dass das Millionen und Abermillionen weitere Besuche (auf den Websites, die die Falschinformationen verbreiten, Anm.) bedeutet“, sagte dazu Fabian Padilla von der Plattform Fast Check gegenüber dem Nachrichtenportal Telemundo.

Verfassungskonvent übergibt die neue Verfassung an Präsident Gabriel Boric übergeben
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Die verfassungsgebende Versammlung übergab Anfang Juli den Entwurf an Präsident Boric (Mitte)

Mehr Staat und stärkerer Schutz für Indigene

Das im Mai des Vorjahres gewählte 154-köpfige Gremium hat den fertig ausgearbeiteten Text für eine neue Verfassung am 4. Juli feierlich an den 36-jährigen Boric übergeben. Der ehemalige Studentenführer, der mit dem Versprechen, gegen die tief verwurzelte Ungleichheit in der chilenischen Gesellschaft ankämpfen zu wollen, erst im Dezember die Präsidentschaftswahl gewann, gilt als einer der größten Verfechter der Verfassungsvorlage.

Bei der Abstimmung steht somit auch für die von Boric angeführte und derzeit gegen ein Umfragetief kämpfende Linksregierung wohl einiges auf dem Spiel. Boric künidigte aber auch an, den vorliegenden Entwurf zu überarbeiten, sollte er am Sonntag von einer Mehrheit abgelehnt werden.

Menschen demonstrieren gegen die neue Verfassung, über die es ein Referendum gibt
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Vertreter des Nein-Lagers lehnen das neue Grundgesetz etwa als „kommunistisch“ ab

Abgesehen vom weiteren Verlauf für Borics Reformvorhaben und Chiles künftigen Kurs werde das Ergebnis der Volksabstimmung aus Beobachtersicht schließlich auch über das Land hinausgehende Auswirkungen haben, insbesondere in Ländern, die ähnliche Verfassungsreformen durchführen. Eine Gruppe von 40 internationalen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen erhofft sich eine Signalwirkung für die ganze Welt. „Wir glauben, dass die neue Verfassung einen neuen globalen Standard für die Bewältigung der Krisen des Klimawandels und der wirtschaftlichen Unsicherheit sowie für nachhaltige Entwicklung setzt“, hieß dazu in einer gemeinsamen Erklärung.

De-facto-Privatisierungsverbot für Wasser

Ein zentrales Merkmal des zur Abstimmung stehenden Entwurfs ist eine Stärkung der staatlichen Rolle, aber auch eine Stärkung der Rechte von Kindern, älteren Menschen, Menschen mit Behinderung, Frauen, der LGBTIQ-Community und der indigenen Gemeinschaften. Als weitere Punkte nennt NPLA die Anerkennung der Rechte von Hausangestellten und Gewerkschaften, die Festigung der öffentlichen Bildungs-, Gesundheits- und Sozialversicherungssysteme sowie den Schutz der Umwelt und insbesondere des Wassers.

In Santiago de Chile tragen Demonstranten einen Sarg für die alte Verfassung symbolisch zu Grabe
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Mit der neuen Verfassung wollen Befürworter das derzeitige, noch von der Militärdiktatur stammende Regelwerk zu Grabe tragen

In dem konservativen Land besonders umstritten: Die neue Verfassung garantiert ein Recht auf Abtreibung. Derzeit sind Schwangerschaftsabbrüche nur in wenigen Ausnahmefällen möglich. Vielfach hervorgehoben wird schließlich der im Text für alle Bereiche der staatlichen Verwaltung vorgesehene Grundsatz einer Geschlechterparität.

Erstmals wird Chile zudem als plurinationaler Staat definiert und den Indigenen – die immerhin rund zwölf Prozent der Bevölkerung ausmachen – ein Selbstbestimmungsrecht eingeräumt. Auch Ulrich Brand vom Forschungsverbund Lateinamerika an der Universität Wien verweist auf die vorgesehene Definition des Staates als „plurinational“, die Geschlechterparität bei der Besetzung öffentlicher Ämter sowie das geplante De-facto-Privatisierungsverbot für Wasser.

70.000 verkaufte Exemplare

Mit 388 Artikeln und 57 Übergangsartikeln wäre es schließlich wohl eine der längsten Verfassungen der Welt – die im Vorfeld auch die Bestsellerlisten stürmte. Anfang August war die neue Verfassung bei der Zeitung „El Mercurio“ Nummer eins unter den in Chile verkauften Sachbüchern. Mit mehr als 70.000 verkauften Exemplaren seien die Erwartungen um ein Vielfaches übertroffen worden, wie Silvia Aguilera vom Verlag LOM Ediciones damals sagte. Anfangs habe man nur den Druck von 1.000 Exemplaren in Auftrag gegeben, so Aguilera: „Die Leute sind in Hochstimmung: Sie wollen den Originalentwurf kennen, mitreden und diskutieren können.“

Gewichtiges Pinochet-Erbe

Die bisherige Verfassung stammt noch aus der Zeit der von Augusto Pinochet angeführten Militärdiktatur (1973 bis 1990), womit der damals eingeschlagene neoliberale Kurs über drei Jahrzehnte sowohl von rechten wie auch linken Regierungen weiter gehalten wurde. Pinochet machte Chile zur vielzitierten Wiege des Neoliberalismus, zu einem „Versuchslabor“ für die Theorien des Wirtschaftswissenschaftlers Milton Friedman, zu dessen Anhängern Pinochet zählte.

„Damals wurde unter anderem festgelegt, dass der Staat sich weitgehend aus dem Wirtschaftsleben raushält und das Bildungs- und Rentensystem überwiegend privat organisiert sind. Sogar Wasser galt fortan nicht mehr als öffentliches Gut, sondern als private Ware, mit der Großkonzerne viel Geld verdienten“, so Brand, demzufolge aber auch die soziale und wirtschaftliche Spaltung in Chile deutlich zugenommen habe.

Trotz einiger Veränderungen ist die Pinochet-Verfassung von 1980 bis heute in Kraft. Bürgerbewegungen und politische Parteien der Linken und der Mitte kritisierten das Grundgesetz immer wieder als unüberwindbares Hindernis für tiefgreifende Änderungen und die Ursache eklatanter wirtschaftlicher Ungleichheiten im – gemessen am Pro-Kopf-Einkommen in US-Dollar – reichsten Land Lateinamerikas.

Anti-Regierungsproteste in chilenischer Hauptstadt Santiago 2019
Reuters/Edgard Garrido
Ausgangspunkt des Verfassungsprojektes sind die Massenproteste vom Oktober 2019

Ticketerhöhung als Auslöser

Erst im Oktober 2019 brachte dann eine Ticketpreiserhöhung für die Metro in der Hauptstadt Santiago das Fass zum Überlaufen. Was folgte, waren landesweite Proteste, zu deren zentraler Forderung eine Verfassungsänderung und damit eine grundlegende Neuausrichtung des Landes wurde.