Mitglieder der IAEA
APA/AFP/Genya Savilov
AKW Saporischschja

„IAEA ist hier, um zu bleiben“

Atomexperten der Vereinten Nationen haben am Donnerstag ungeachtet anhaltender Kämpfe im Süden der Ukraine das von Russland besetzte AKW Saporischschja erreicht. Der Chef der in Wien ansässigen Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, erklärte anschließend auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, seine Behörde sei „hier, um zu bleiben“. Aus der ukrainischen Führung und der Betreibergesellschaft kamen indes Zweifel am Sinn der Mission.

Die 14 Experten erreichten erst nach gefährlicher Anreise das Kraftwerk. Der Konvoi musste mehrfach stoppen, um nicht selbst unter Beschuss zu geraten. Grossi sprach von einem „lange erwarteten Besuch“. Am ersten Tag habe man einen mehrstündigen „ersten Rundgang durch die Schlüsselbereiche absolviert“. Wie Grossi in einem auf Twitter veröffentlichten Video weiter mitteilte, werde man eine neutrale technische Begutachtung des Kraftwerkes vornehmen.

„Wir gehen nirgendwo hin“, sagte er Reportern zum weiteren Vorgehen. „Die IAEA ist jetzt an Ort und Stelle, sie ist in der Anlage und wird nicht weggehen – sie wird dort bleiben.“ Es gebe noch viel zu tun. Neun Experten einschließlich Grossi verließen am Nachmittag das Gelände und fuhren zurück in ukrainisches Gebiet, fünf blieben für weitere Untersuchungen in dem Kraftwerk. Grossi traf sich am Checkpoint unter anderen mit dem ukrainischen Energieminister Herman Haluschtschenko.

IAEA Generaldirektor Grossi
Reuters/Anna Voitenko
Grossi im Gespräch mit dem ukrainischen Energieminister Haluschtschenko

Der Chef des ukrainischen Energiekonzerns Enerhoatom, Petro Kotin, hatte der Nachrichtenagentur Reuters zuvor gesagt, die IAEA-Mitglieder würden wohl bis Samstag bleiben. Kotin zufolge bemühen sich die ukrainischen Techniker, den fünften Reaktorblock von Saporischschja wieder in Gang zu bringen. Dieser war am Morgen nach einem Beschuss vom Netz genommen worden. Nach russischen Angaben wiederum werden zwei IAEA-Inspektoren doch dauerhaft im Kernkaftwerk bleiben. Das berichtete die Nachrichtenagentur RIA unter Berufung auf einen russischen Botschafter in Wien.

IAEA will bleiben

IAEA-Chef Grossi kündigt nach seiner ersten Visite im AKW Saporischschja in einer Videobotschaft an, dass die Atomschutzbehörde an Ort und Stelle sei, „um zu bleiben“.

Selenskyj zwischen Kritik und Zuversicht

Die IAEA-Mission könnte trotz der Schwierigkeiten, die durch die russische Präsenz entstanden sind, weiterhin wichtig sein, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Freitag. „Wir haben alles getan, um sicherzustellen, dass die IAEA Zugang zum Kernkraftwerk Saporischschja erhält, und ich glaube, dass diese Mission immer noch eine Rolle spielen kann“, sagte Selenskyj in einem Video, das beim Ambrosetti-Wirtschaftsforum in Cernobbio am Comer See am Freitag ausgestrahlt wurde.

Wenige Stunden zuvor hatte Selenskyj in seiner allabendlichen Ansprache der IAEA vorgeworfen, nicht deutlich die „Entmilitarisierung“ des unter russischer Kontrolle stehenden Nuklearstandorts gefordert zu haben.

Kurz vor Ankunft Reaktor heruntergefahren

Das Atomkraftwerk ist mit sechs Reaktoren und einer Kapazität von 5.700 Megawatt die leistungsstärkste Nuklearanlage in Europa. Das Gelände und die dazugehörige Stadt Enerhodar wurden bereits kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges von den Besatzungstruppen erobert. Seither werden sie von einer moskauhörigen Militärverwaltung kontrolliert. Das Kraftwerk selbst wird jedoch weiterhin von ukrainischem Fachpersonal betrieben.

Kurz vor dem Eintreffen der Experten am Donnerstag in der Anlage, das unter starker Präsenz russischer Truppen erfolgte, waren in der Umgebung erneut Kämpfe ausgebrochen. Ukrainer und Russen gaben einander gegenseitig die Schuld. Einer von zwei noch betriebenen Reaktoren des AKW wurde nach Angaben des ukrainischen Betreibers Enerhoatom nach russischem Beschuss heruntergefahren.

Die Atomexperten mit IAEA-Chef Grossi an der Spitze sollen überprüfen, in welchem Zustand die Anlage mit ihren sechs Reaktoren ist, unter welchen Bedingungen die ukrainische Bedienungsmannschaft arbeitet, ob alles Nuklearmaterial noch vorhanden ist. Die Anlage und ihre Umgebung sind in den vergangenen Wochen immer wieder beschossen worden, wobei Russen und Ukrainer einander gegenseitig die Schuld zuschieben. International gab es große Sorge vor Schäden am Werk und einem Austritt von Radioaktivität.

Betreiber berichtet von verschwundenen Mitarbeitern

Der ukrainische AKW-Betreiber Enerhoatom teilte mit, die Mitarbeiter seien Repressionen durch die russischen Besatzer ausgesetzt. Mehrere Mitarbeiter, die den Russen gegenüber nicht wohlgesonnen seien, seien verschwunden. Enerhoatom bezweifelt auch, dass die Mission zur Klärung beitragen kann. „Die Besatzer lügen, verfälschen Tatsachen und Beweise“, kritisierte Enerhoatom am Freitag mit Blick auf Russland im Nachrichtenkanal Telegram.

Der Delegation sei zudem der Zutritt ins Krisenzentrum der Anlage verwehrt worden. Dort sei derzeit russisches Militärpersonal stationiert. Russland unternehme alle Anstrengungen, dass keine Fakten zum AKW bekanntwürden.

Rotes Kreuz fordert Ende der Kämpfe in der Region

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) forderte Russland und die Ukraine zu einem Ende der Kämpfe in der Nähe des Atomkraftwerks. „Es darf keine Kämpfe in, um, in Richtung und aus derartigen Einrichtungen wie dem AKW heraus geben“, sagte der Leiter der Organisation, Robert Mardini, Journalisten am Donnerstag in Kiew. Bei einem „massiven Zwischenfall“ in Europas größtem Kraftwerk im Süden der Ukraine gäbe es „nur noch wenig, was irgendjemand tun kann“.

Kampfhandlungen in Enerhodar „Wahnsinn“

Der ukrainische Energieminister Haluschtschenko bezeichnet die Kämpfe in der Stadt Enerhodar als „Wahnsinn“. Dass auch beim IAEA-Besuch die Waffen nicht schweigen werden, sei dem Minister zufolge allerdings vorhersehbar gewesen.

Der ukrainische Energieminister Haluschtschenko zeigte sich über die Geschehnisse rund um den IAEA-Besuch in Saporischschja unterdessen wenig verwundert. Es sei vorhersehbar gewesen, dass Russland versuche, die Inspektoren von ihrer Visite abzuhalten. Die Kampfhandlungen in der nahe gelegenen Stadt Enerhodar bezeichnete er als „Wahnsinn“.

Der ukrainische Betreiber des AKW äußerte am Freitag Zweifel an einer neutralen Begutachtung des Kraftwerks durch die IAEA. Aufgrund des russischen Einflusses sei eine unabhängige Bewertung durch die IAEA schwierig, teilte Enerhoatom mit. Zudem werde der IAEA-Delegation der Zutritt zum Krisenzentrum der Anlage verwehrt.