ein Lehrer im Unterricht
ORF.at/Wolfgang Rieder
Wien besonders betroffen

Lehrkräftemangel zeigt gravierende Folgen

Zu Beginn der Sommerferien hat es sich abgezeichnet, der Schulstart hat es nun bestätigt: Der österreichweite Lehrkräftemangel macht sich heuer besonders bemerkbar. Vor allem in Wien macht eine Pensionierungswelle und ein Mangel an Vollzeitbeschäftigten den Schulen zu schaffen. Die Gewerkschaft übt scharfe Kritik an der Bildungsdirektion, die „notorisch unterbesetzt“ sei.

Der Lehrkräftemangel betreffe Länder und Schulfächer unterschiedlich, betont das Bildungsministerium. Dennoch berichten fast alle Bundesländer zu Schulbeginn von ähnlichen Herausforderungen: Damit der flächendeckende Unterricht gewährleistet werden kann, setzt man in Tirol, Oberösterreich und Vorarlberg etwa auf Mehrdienstleistungen, einvernehmliche Erhöhungen der Beschäftigung von Teilzeitlehrkräften und die Anstellung von Lehramtsstudierenden.

Auch in Salzburg sei der Lehrkräftemangel nicht von der Hand zu weisen, bestätigt Landesrätin Daniela Gutschi im Gespräch mit ORF.at. Besonders in den Hauptfächern, in der Integration und in Bewegung und Sport würden im Mittelschulbereich sowie in Polytechnischen Schulen aktuell Lehrpersonen fehlen. Im Burgenland seien „mehr Bewerberinnen und Bewerber über alle Fächer und Schultypen hinweg“ wünschenswert.

In Vorarlberg, das den pensionsbedingten Lehrkräftemangel aktuell besonders zu spüren bekommt, setzt man vor allem auf Quereinsteigerinnen und -einsteiger, Rückholaktionen von pensioniertem Lehrpersonal und Lehrkräfte aus anderen Bundesländern. Zudem bekämen nach Vorarlberg gezogene Lehrpersonen im Pflichtschulbereich einen Zuschuss von monatlich 180 Euro für zwei Jahre und in dieser Zeit das Klimaticket finanziert, heißt es aus der Bildungsdirektion auf Anfrage von ORF.at. Bis 2027 sollen jährlich über 200 Bundes- und Landeslehrpersonen in Pension gehen.

Wien mit besonderen Herausforderungen

„Das kommende Schuljahr ist ein ganz besonderes, denn es ist das hundertste, das die Bildungsdirektion für Wien mitgestalten darf“, zeigte sich Wiens Bildungsdirektor Heinrich Himmer zu Beginn des Schuljahres optimistisch. Seit 100 Jahren sei man die Drehscheibe pädagogischer Innovation und gehe auf aktuelle Anforderungen ein, so Himmer. Die sind gerade in Wien in diesem Schuljahr zahlreich – hat sich der pensionsbedingte Lehrkräftemangel in der Bundeshauptstadt doch besonders bemerkbar gemacht.

2.400 Stellen wurden heuer ausgeschrieben, besonders eng ist es in Mittelschulen, AHS und Berufsbildenden mittleren und höheren Schulen (BMHS) in Fächern wie Physik, Chemie, Mathematik, Informatik, Sport für Mädchen und in Musik. Ein Trend, der sich auch in der bundesweiten Prognose für die Sekundarstufe I und II bis 2025 widerspiegelt, die ÖVP-Bildungsminister Martin Polaschek im Rahmen einer parlamentarischen Anfragebeantwortung veröffentlichte.

In der Grundplanung sei in Wien zwar ausreichend Personal vorhanden, so der oberste Wiener Pflichtschullehrervertreter Thomas Krebs (FCG) im Gespräch mit ORF.at. „Aber extrem viele davon sind in Teilzeitbeschäftigung oder Karenz.“ Rund ein Drittel des Bundeslehrpersonals an AHS und BHS befindet sich aktuell in Teilbeschäftigung, an den Pflichtschulen ist es knapp ein Viertel. Im kommenden Jahr wird erwartet, dass 477 Landes- und 313 Bundeslehrkräfte in Pension gehen. Gleichzeitig wird Wien 2023 allein in der Primarstufe (Vorschulen, Volksschulen und Sonderschulen) ein Bedarf von 277 Vollzeitbeschäftigten prognostiziert.

„Stopfen ein Loch, indem wir anderes aufmachen“

„Wir stopfen ein Loch, indem wir ein anderes aufmachen“, kritisiert Krebs die Maßnahmen der Bildungsdirektion. Wiener Ganztagsschulen können etwa ihr Grundkonzept der verschränkten Form von Freizeit und Unterricht nicht mehr durchführen. An einigen Standorten können aufgrund der fehlenden Lehrkräfte Deutschförderklassen nicht mehr angeboten werden.

Schwamm und Kreide auf der Ablage einer Tafel in einem Klassenzimmer
ORF.at/Carina Kainz
Der Lehrkräftemangel betrifft unterschiedliche Schulfächer – knapp ist es etwa in Informatik oder Bewegung und Sport für Mädchen

„Die Situation ist untragbar“, so Martina Mollay, Direktorin an der Volksschule Grobergasse in Ottakring, zu ORF.at. „In jeder Klasse steht ein Lehrer, ja – aber nur, weil zum Beispiel Stützlehrer abgezogen werden.“ Wegen Langzeitkrankenständen und fehlendem Personal stehe sie oft selbst im Klassenzimmer und verlege die administrativen Aufgaben dann in den Abend.

„Wir wollen, dass die Bildungsdirektionen schneller arbeiten – wohl wissend, dass auch dort an wenigen Leuten viel hängt“, so die Forderung Mollays. „Es war abzusehen, dass diese Pensionswelle kommt. Und dass dann gleichzeitig die Lehrerausbildung der Studierenden verlängert wird – das war der Super-GAU.“ Laut parlamentarischer Anfragebeantwortung wurden im Schuljahr 2021/22 349 Studierende an Volksschulen ohne abgeschlossenes Studium als Lehrkräfte eingesetzt.

Junglehrkräfte zunehmend überfordert

Auf Anfrage von ORF.at, ob ausreichend Lehrpersonal für Deutschförder- und Ukraineklassen zur Verfügung stehe, ob der Lehrkräftemangel sich in irgendeiner Hinsicht auf den Tagesablauf der Ganztagsschulen auswirke und welche weiteren Herausforderungen sich aktuell aus der Situation ergeben würden, heißt es aus dem BMWF: „Für die Deutschförderklassen und den Unterricht der ukrainischen Schülerinnen und Schüler ist ausreichend Lehrpersonal verfügbar.“

Laut parlamentarischer Anfragebeantwortung arbeite man an Verbesserungen im Bewerbungs- und Anstellungsverfahren und einem Ausbau berufsbegleitender Angebote für Lehramtsstudierende. Als zentrale Maßnahme zur kurzfristigen Gegensteuerung sehe man den Quereinstieg, der mit der Dienstrechtsnovelle 2022 verankert wurde. Eine langfristige Lösung ist der verstärkte Einsatz von Studierenden laut Gewerkschafter Krebs nicht. Anstatt neues Personal anzuwerben, müsse man zudem alles daran setzen, vorhandenes Personal zu halten.

„Wir haben Studierende, die schon in der ersten Studiumshälfte klassenführend eingesetzt werden, und das kann nicht ideal sein.“ Gerade am Anfang kämen auf Junglehrerinnen und -lehrer viele Aufgaben zu, bestätigt ein 25-jähriger Informatik- und Geografielehrer aus Wien im Gespräch mit ORF.at. „Ich habe von vielen gehört, die nach kurzer Zeit wieder aufgehört haben, weil sie in ein System hineingekommen sind, das sie von Anfang an überfordert. Dadurch verliert man schnell gut ausgebildete Leute.“

„Keine transparente Kommunikation mit Studierenden“

Zudem werde man im Studium nur schlecht darüber informiert, für welche Fächer in den kommenden Jahren überhaupt Lehrkräfte gebraucht würden. „Es gibt hier keine transparentere Kommunikation mit den Lehramtsstudierenden, obwohl wir oft nach Bedarfsprognosen gefragt haben“, so der Wiener Junglehrer. Das Fach Psychologie und Philosophie ist aktuell etwa so beliebt, dass das Studium zwischendurch ausgesetzt wurde, während Lehrkräfte für das neue Fach „Digitale Grundbildung“ überall gesucht werden – wobei es hierfür noch kein Studium gibt.

Fachfremdes Unterrichten wegen des Lehrkräftemangels gebe es an seiner AHS nicht, ein Mangel herrsche dank guter Vorausplanung vonseiten der Direktion kaum. Anders sieht die Situation an einer neuen Mittelschule im zehnten Wiener Bezirk aus. „Fachfremdes Unterrichten ist an der Mittelschule ganz normal und erlaubt. Es gibt Leute, die bis zu sechs Fächer unterrichten, obwohl sie nicht in allen ausgebildet sind“, so eine Junglehrerin.

Kritik an Bildungsdirektion

Sie selbst müsse etwa auch Werken unterrichten. „Das finde ich auch den Kindern gegenüber nicht fair“, so die studierte Spanisch- und Englischlehrerin. Besonders in den Fächern Bewegung und Sport, Bildnerische Erziehung, Biologie, Chemie und Physik sei der fachfremde Unterricht in ersten und zweiten Klassen üblich. Teilweise gebe es bereits seit Juni Personal für fehlende Stellen. Die Bildungsdirektion käme aber mit dem Erstellen der Verträge nicht hinterher. „Manche Kolleginnen und Kollegen sind immer noch nicht angestellt, obwohl das Schuljahr schon begonnen hat.“

Lehrer im Lehrerzimmer einer Schule
ORF.at/Carina Kainz
Bereits seit Jahren zeichneten sich Pensionierungswellen aufgrund der geburtenstarken 1960er-Jahrgänge ab

„Wir haben behördlich einen enormen Rückstand in Wien, den wir jetzt spüren“, so auch Krebs. Die Integration von ukrainischen Kindern komme nach dazu. Wien habe eine besondere pädagogische Aufgabenvielfalt zu bewältigen, aber viele Probleme seien hausgemacht. „Die Bildungsdirektion ist notorisch unterbesetzt, und Projekte wie die Sommerschule haben einen enormen administrativen Aufwand.“ Wenn kein Personal da wäre, könne man auch keines vermitteln.

Ganzjährige Bewerbung geplant

Wien habe als Ballungsraum besondere Herausforderungen und brauche der Situation angemessene Lehrplanstellenkontingente des Bildungsministeriums, so der Mediensprecher des Wiener Bildungsstadtrates Christoph Wiederkehr auf Anfrage von ORF.at. Das Problem fehlender Lehrkräfte sei ein österreichweites und strukturell bedingt.

Im Interview mit der „Kronen Zeitung“ erklärte Wiederkehr, dass die Bildungsdirektion mit Hochdruck daran arbeite, die derzeit fehlenden Lehrerverträge auszustellen. Einige würden bereits mit einer vorläufigen Vereinbarung unterrichten. Zudem wolle man künftig eine ganzjährige Bewerbung von Lehrerinnen und Lehrern ermöglichen.

Derzeit ist in Wien (wie auch in anderen Bundesländern) eine reguläre Bewerbung für höhere Schulen nur im April/Mai möglich. Im Pflichtschulbereich kann man sich in diesem Jahr laut Bildungsdirektion von 26. bis 27. September bewerben. „Ab diesem Schuljahr wollen wir auch ganzjährig Lehrer rekrutieren“, kündigte Wiederkehr laut „Kronen Zeitung“ an. Allerdings ist aus Wiener Schulen auch zu hören, dass aufgrund des Personalmangels in der Bildungsdirektion auch bei der Bearbeitung von Bewerbungen ein Rückstau entstand. Selbst wenn sich neue Lehrerinnen und Lehrer beworben haben, dauert es also, bis sie in den Klassen stehen können.