Der ungarische Premierminister Viktor Orban bei einem Gipfel in Brüssel
Reuters/Johanna Geron
EU droht mit Geldentzug

„Ungarn keine Demokratie mehr“

Ungarn ist nach Ansicht des Europaparlaments keine vollwertige Demokratie mehr. Stattdessen hätten sich die Zustände in dem Land so sehr verschlechtert, dass es zu einer „Wahlautokratie“ geworden sei. Die EU-Kommission könnte daher am Sonntag beschließen, EU-Mittel in Milliardenhöhe zu kürzen, wie die dpa aus EU-Kreisen erfuhr.

„Unter Sachverständigen“ herrsche zunehmend Einigkeit darüber, „dass Ungarn keine Demokratie mehr ist“, hieß es in einer am Donnerstag in Straßburg mit 433 gegen 123 Stimmen gebilligten, nicht bindenden Entschließung. Ungarn sei „zu einem hybriden System der Wahlautokratie geworden“. Es bestehe das klare Risiko eines ernsthaften Bruchs der Werte, auf denen die Europäische Union gegründet sei.

Die Abgeordneten kritisierten die Europäische Union selbst, nicht entschlossen genug gehandelt zu haben. Das Parlament bedauere, „dass das Fehlen entschlossener Maßnahmen der EU zu einem Zerfall der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn beigetragen hat“. Die Regierungspartei FIDESZ von Viktor Orban konterte, das EU-Parlament sei mehr daran interessiert, Ungarn zu beschimpfen, als die Wirtschaftskrise anzugehen.

Kürzung von EU-Milliarden möglich

Ungarn droht wegen weit verbreiteter Korruption und anderer Verstöße gegen den Rechtsstaat die Kürzung von EU-Mitteln in Milliardenhöhe. Einen entsprechenden Vorschlag an die Mitgliedsstaaten könnte die EU-Kommission von Ursula von der Leyen am Sonntag beschließen, wie die dpa in Brüssel aus EU-Kreisen erfuhr.

Über Monate hatten die Europaabgeordneten die EU-Kommission in Brüssel aufgefordert, etwas gegen mutmaßliche Rechtsstaatsverstöße in Ungarn zu tun und dem Land womöglich EU-Gelder zu kürzen. Den Rechtsstaatsmechanismus löste die EU-Kommission nach langem Zögern im April aus. Damit können bei Verstößen gegen gemeinsame Grundwerte Zahlungen aus dem EU-Haushalt für Länder gekürzt werden.

Rechtsstaatsmechanismus in Gang

Die EU-Kommission könnte laut einem Dokument den EU-Staaten vorschlagen, bis zu 70 Prozent aus mehreren Programmen der Strukturfonds zur Förderung benachteiligter Regionen einzubehalten. Berechnungen des grünen Europaabgeordneten Daniel Freund zufolge könnten das rund sieben Milliarden Euro sein. Aus EU-Kreisen hieß es, die Zahlen könnten sich noch ändern.

Bevor es wirklich zu Mittelkürzungen kommt, ist ein Beschluss von mindestens 15 EU-Staaten nötig, die für 65 Prozent der Bevölkerung stehen. Allerdings besteht noch immer die Möglichkeit für einen Kompromiss mit Budapest. Im Europaparlament wird deshalb befürchtet, dass das Geld letztlich doch an Ungarn fließen wird.

Schwere Vorwürfe

Die EU-Kommission bemängelt schon lange weit verbreitete Korruption in dem seit zwölf Jahren von Orban regierten Land. In einem Bericht vom Juli ist die Rede von „einem Umfeld, in dem die Risiken von Klientelismus, Günstlings- und Vetternwirtschaft in der hochrangigen öffentlichen Verwaltung nicht angegangen werden“.

In einem anderen Dokument der Behörde werden vor allem Defizite in der öffentlichen Auftragsvergabe kritisiert. Es gebe „schwerwiegende systembedingte Unregelmäßigkeiten, Mängel und Schwachstellen in den öffentlichen Vergabeverfahren“. Es folgt eine lange Liste weiterer Mängel.

Von der Leyen: „Rechtsstaatlichkeit schützen“

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hatte am Mittwoch in ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union gesagt, entschieden gegen Korruption vorgehen zu wollen. „Es ist die Pflicht und die vornehmste Aufgabe meiner Kommission, die Rechtsstaatlichkeit zu schützen“, so von der Leyen. Unter anderem soll eine unabhängige Behörde eingerichtet werden, die die Verwendung von EU-Mitteln überwacht.

Der ÖVP-Europaabgeordnete Lukas Mandl sagte, die Konditionalität im Rechtsstaatlichkeitsverfahren „wird auch in Ungarn seine Wirkung nicht verfehlen“. Die Menschen in Ungarn verdienten Rechtsstaatlichkeit. „Die Situation wird immer schlimmer, Ungarns Demokratie zerfällt vor unseren Augen“, beklagte die SPÖ-Europaabgeordnete Bettina Vollath.

„Die Europäische Kommission darf EU-Gelder erst dann genehmigen, wenn die Regierung alle länderspezifischen Empfehlungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit in vollem Umfang erfüllt und alle einschlägigen Urteile des Europäischen Gerichtshofs umgesetzt hat – darüber hinaus muss bei missbräuchlicher Verwendung von EU-Geldern rasch sanktioniert werden“, forderte die grüne Delegationsleiterin Monika Vana. Ungarn sei keine Demokratie mehr, sondern ein „hybrides Regime“. Fehlende Maßnahmen vonseiten der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates hätten dazu beigetragen.

Warten auf CoV-Hilfe

Neben der Gefahr, dass für Ungarn vorgesehene EU-Mittel eingefroren werden, wartet das Land außerdem noch auf Geld aus dem milliardenschweren EU-Topf zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Krise. Die EU-Kommission und die ungarische Regierung konnten sich bisher nicht auf einen ungarischen Plan zur Verwendung des Geldes einigen. Es ist das einzige Land, dessen CoV-Aufbauplan noch nicht steht.

Kritik von Freiheitlichen

Als „Schande“ bezeichnete unterdessen der freiheitliche Delegationsleiter Harald Vilimsky die Annahme des Berichts. „Die allgemeine Situation der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn wird in diesem Bericht angeprangert, ohne jedoch konkrete Verstöße zu belegen“, kritisierte er. „Es ist eine Schande, wie Ungarn hier auf der europäischen politischen Bühne behandelt wird. Und es ist eine Schande, dass sich nicht nur Linke, sondern auch sogenannte Christdemokraten an dieser politischen Inszenierung durch die Linken beteiligen“, so Vilimsky.