Der Bereich des Massengrabes in Isjum wird mit Bändern abgesperrt
AP/Evgeniy Maloletka
Nach Berichten über Massengrab

Ukraine sucht nach weiteren Toten

Nach Berichten über den Fund eines Massengrabs bei Isjum im ostukrainischen Gebiet Charkiw wird in kürzlich zurückeroberten Gebieten nach weiteren Leichen gesucht. Die Suche werde durch Minen erschwert, sagte der ukrainische Vermisstenbeauftragte Oleh Kotenko der Agentur Unian zufolge.

Dennoch werde jede Anstrengung unternommen – insbesondere auch, um die Körper gefallener Soldaten an ihre Familien übergeben zu können: „Wir setzen die Arbeit fort (…), damit die Familien die Soldaten, die für die Ukraine gestorben sind, so schnell wie möglich angemessen ehren können“, sagte Kotenko.

Am Donnerstag hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj berichtet, in der kürzlich zurückeroberten Stadt Isjum in der Oblast Charkiw sei nach dem Abzug der russischen Truppen ein Massengrab gefunden worden. Ukrainische Medien berichteten von einem Fund von mehr als 440 Leichen in einem Wald.

Zwei Soldaten stehen vor einem Grab in Isjum
AP/Evgeniy Maloletka
Der ukrainische Vermisstenbeauftragte Oleh Kotenko (l.) bei den Gräbern in Isjum

Kotenko: Kein neues Butscha

Bei den Leichenfunden in Isjum handelt es sich Aussagen des ukrainischen Vermisstenbeauftragten zufolge nicht um ein Massengrab, sondern um viele Einzelgräber. „Ich möchte das nicht Butscha nennen – hier wurden die Menschen, sagen wir einmal, zivilisierter beigesetzt“, sagte Kotenko dem TV-Sender Nastojaschtschee Wremja in der Nacht auf Freitag.

Ende März waren in dem Kiewer Vorort Butscha nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte getötete Zivilisten teils mit Folterspuren gefunden worden. Butscha gilt seitdem als Symbol für schwerste Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der am 24. Februar begann.

Ein verwundeter ukrainischer Soldat wird von einem Kameraden auf einer Straße gestützt
AP/Kostiantyn Liberov
Ein Konvoi mit ukrainischen Soldat im befreiten Gebiet Charkow

„Mehrzahl starb unter Beschuss“

Die Menschen in Isjum wiederum seien wohl gestorben, als Russlands Truppen die Stadt im Zuge der Eroberung Ende März heftig beschossen hätten, sagte Kotenko. „Die Mehrzahl starb unter Beschuss, wir haben das den Daten nach bereits verstanden: Die Menschen kamen um, als sie (die Russen) die Stadt mit Artillerie beschossen“, sagte Kotenko. Die Bestattungsdienste hätten zum Teil nicht gewusst, wer die vielen toten Menschen seien. Deshalb stünden auf einigen Kreuzen nur Nummern. Derzeit bemühten sich die Behörden, ein Register mit den Fundorten der Leichen zu finden.

Das russische Militär hatte Charkiw am Wochenende unter dem Druck ukrainischer Gegenoffensiven verlassen. Das Verteidigungsministerium in Moskau begründete das mit einer „Umgruppierung“ seiner Truppen, während selbst kremlnahe Quellen von einer verheerenden Niederlage sprachen. „Wir wollen, dass die Welt weiß, was die russische Besatzung verursacht hat“, sagte Selenskyj am Donnerstag, ohne selbst Details zur Anzahl der Leichen oder der Todesursache zu nennen.

Einzelgräber durch Kreuze gekennzeichnet

Die Ermittlungen hätten begonnen, sagte Selenskyj in seiner täglichen Videobotschaft weiter. Journalisten der US-Nachrichtenagentur AP sahen den Ort in einem Wald außerhalb von Isjum. Ein Massengrab trug eine Markierung, die besagte, dass es die Leichen von 17 ukrainischen Soldaten enthielt. Es war von Hunderten von Einzelgräbern umgeben, die nur durch Kreuze gekennzeichnet waren.

Feld nahe Isjum mit vielen Kratern
AP/Kostiantyn Liberov
Ein Feld in Isjum mit vielen Kratern zeigt die Heftigkeit der Kämpfe

Ein Polizeibeamter sprach gegenüber dem Sender Sky News von einer Grabstätte mit etwa 440 Leichen, die in Isjum entdeckt worden sei. Einige der Verstorbenen seien durch Schüsse getötet worden, andere seien während Bombardierungen gestorben. „Ich kann sagen, dass es sich um eine der größten Begräbnisstätten in den befreiten Gebieten handelt“, so Serhij Bolwinow.

Ukraine: Massengrab in zurückeroberter Stadt

In der ukrainischen Stadt Isjum, die nach der russischen Invasion zurückerobert werden konnte, ist jetzt ein Massengrab entdeckt worden. Über 440 Menschen wurden dort verscharrt.

Präsidialamtschef Andrij Jermak warf den russischen Truppen Mord vor und veröffentlichte ein Foto von einem Waldgebiet mit grob gezimmerten Holzkreuzen. Alle in dem Massengrab gefundenen Leichen würden exhumiert und gerichtsmedizinisch untersucht, kündigte Jermak an.

Vergleiche mit Butscha und Mariupol

Selenskyj verglich Isjum mit den Städten Butscha und Mariupol, die zu Symbolen für die Gräuel der russischen Invasion in der Ukraine geworden sind. „Russland hinterlässt überall den Tod“, sagte er. Die Welt müsse Moskau „wirklich für diesen Krieg zur Rechenschaft ziehen“.

Nach dem Abzug russischer Truppen aus Butscha und anderen Vororten von Kiew Ende März waren dort Hunderte tote Zivilistinnen und Zivilisten entdeckt worden. Moskau stritt trotz erdrückender Beweise ab, dass die Tötungen auf das Konto russischer Soldaten gingen, und sprach von einer ukrainischen Inszenierung. Die Ukraine sammelt mit internationaler Hilfe Beweise für mutmaßliche Kriegsverbrechen der russischen Armee.

Normalisierung im Kriegsgebiet

Am Mittwoch hatte Selenskyj eine seltene Reise außerhalb der ukrainischen Hauptstadt unternommen, um der Hissung der Nationalflagge im Rathaus von Isjum beizuwohnen. Selenskyj hatte betont, dass es wichtig sei, das Leben in den zurückeroberten Gebieten im Osten so schnell wie möglich wieder zu normalisieren. Als Beispiel für die angestrebte Normalisierung in zurückeroberten Gebieten nannte der Präsident, dass in der befreiten Stadt Balaklija im Gebiet Charkiw erstmals wieder Pensionen ausgezahlt worden seien – und zwar rückwirkend für fünf Monate.

ein Mitglied der ukrainischen Armee bei der Dokumentation des Massengrabes
AP/Evgeniy Maloletka
Für internationale Ermittlungen werden Fotos gemacht

Bolwinow: Foltergefängnis gefunden

Ebenfalls aus Balaklija kam die Nachricht, dass russische Kräfte im örtlichen Polizeirevier ein Foltergefängnis unterhalten haben sollen. Im Keller seien während der mehrere Monate dauernden Besatzung durchgehend um die 40 Menschen eingesperrt gewesen, berichtete der ranghohe ukrainische Polizist Bolwinow nach einem Ortstermin.

„Die Besatzer nahmen diejenigen mit, die beim Militär dienten oder dort Verwandte hatten, und suchten auch nach denen, die der Armee halfen“, schrieb der Leiter der Ermittlungsabteilung bei der Polizei Charkiw auf Facebook. Laut Zeugenaussagen seien Gefangene mit Stromschlägen gefoltert worden. Reporter der BBC und anderer ausländischer Medien bestätigten die Angaben. Sie berichteten auch von Leichen, die in Balaklija gefunden worden seien. Auch aus anderen Orten der Region gab es unverifizierte Berichte über Leichenfunde.

Von der Leyen: Prozess gegen Putin „möglich“

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schloss derweil nicht aus, dass der russische Präsident Wladimir Putin künftig vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zur Verantwortung gezogen wird. Es stehe außer Zweifel, dass in der Ukraine schwerste Kriegsverbrechen begangen würden, sagte von der Leyen Bild TV. Einen Prozess gegen Putin vor dem IStGH halte sie „für möglich“.