Leichensäcke und Gräber im Wald
AP/Evgeniy Maloletka
Leichenfunde in Isjum

Selenskyj fordert Westen zu Reaktion auf

Angesichts des Fundes Hunderter Leichen von Bewohnern und Bewohnerinnen von Isjum fordert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Bestrafung Russlands wegen Kriegsverbrechen und weitere härtere Sanktionen. Die Welt dürfe nicht zusehen, wie der „Terrorstaat“ Russland töte und foltere. Die US-Regierung bezeichnete die Leichenfunde als „abscheulich“. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell äußerte sich „zutiefst schockiert“ über die Gräueltaten.

Bisher wurden 440 Gräber in der Nähe von Isjum in dem befreiten Gebiet Charkiw gefunden. Die Ermittlungen dauern noch an. Selenskyj verglich die Situation mit Butscha, einem Vorort von Kiew, das als Symbol für schwerste Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg gilt. In Isjum seien ganze Familien und Menschen mit Folterspuren verscharrt worden.

Selenskyj betonte in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters, es gebe Hinweise auf von russischen Soldaten verübte Kriegsverbrechen. Die Funde sollten mit internationaler Hilfe untersucht werden. Die UNO will nun Experten für Untersuchungen schicken. Die Menschen sollen ersten Erkenntnissen zufolge ums Leben gekommen sein, als Russland die Stadt Ende März heftig beschoss.

Die tschechische EU-Ratspräsidentschaft forderte die Einsetzung eines internationalen Kriegsverbrechertribunals zur Ukraine. „Im 21. Jahrhundert sind solche Angriffe auf die Zivilbevölkerung undenkbar und abscheulich“, schrieb der tschechische Außenminister Jan Lipavsky am Samstag bei Twitter. „Wir dürfen nicht darüber hinwegsehen. Wir setzen uns für die Bestrafung aller Kriegsverbrecher ein.“ Er rufe „zur raschen Einsetzung eines speziellen internationalen Tribunals auf, das die Verbrechen verfolgt.“

„Anzeichen eines gewaltsamen Todes“

Dem Gouverneur von Charkiw, Oleh Synjehubow, zufolge wurden in einem Massengrab in der zurückeroberten Stadt Isjum Leichen mit auf dem Rücken gefesselten Händen gefunden. „Nach unseren Informationen weisen alle Bestatteten Anzeichen eines gewaltsamen Todes auf“, sagte Synjehubow bei einer Visite in Isjum. Das kann nicht unabhängig bestätigt werden.

Der ukrainische Vermisstenbeauftragte Oleh Kotenko meinte, dass es sich nicht um ein Massengrab, sondern um viele Einzelgräber handle. „Ich möchte das nicht Butscha nennen. Hier wurden die Menschen, sagen wir einmal, zivilisierter beigesetzt“, so Kotenko gegenüber dem TV-Sender Nastojaschtschee Wremja.

Zwei Soldaten stehen vor einem Grab in Isjum
AP/Evgeniy Maloletka
Der ukrainische Vermisstenbeauftragte Oleh Kotenko (l.) bei den Gräbern in Isjum

Polizeichef: Bisher nur Zivilisten in Massengrab gefunden

Bei den meisten Leichen in einem Massengrab in Isjum handelt es sich nach Angaben des Chefs der ukrainischen Polizei, Ihor Klymenko, um Zivilisten. Obwohl man Informationen bekommen habe, dass Truppen dort waren, sei bisher kein einziger toter Soldat geborgen worden.

Journalisten der US-Nachrichtenagentur AP sahen den Ort in einem Wald außerhalb von Isjum. Ein Massengrab trug eine Markierung, die besagte, dass es die Leichen von 17 ukrainischen Soldaten enthielt. Es war von Hunderten von Einzelgräbern umgeben, die nur durch Kreuze gekennzeichnet waren.

ORF-Bericht zu Gräberfund

ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz berichtet über den Fund zahlreicher Gräber in einem Wald nahe Isjum in der Ukraine.

In den von Russland zurückeroberten Gebieten im Nordosten wurden nach Angaben der ukrainischen Polizei mindestens „zehn Folterräume“ entdeckt. „Bis zum heutigen Tag kann ich von mindestens zehn Folterräumen in Orten der Region Charkiw sprechen“, sagte der nationale Polizeichef Klymenko am Freitag nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax. Allein zwei seien in der kleinen Stadt Balaklija entdeckt worden. Die Behörden hätten in 204 Fällen Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte aufgenommen, fügte Klymenko hinzu.

Dutzende Gefangene in Keller von Polizeirevier

In Balaklija seien im Keller des Polizeireviers während der mehrere Monate dauernden Besatzung durchgehend um die 40 Menschen eingesperrt gewesen, berichtete der ranghohe ukrainische Polizist Serhij Bolwinow nach einem Ortstermin. „Die Besatzer nahmen diejenigen mit, die beim Militär dienten oder dort Verwandte hatten, und suchten auch nach denen, die der Armee halfen“, schrieb der Leiter der Ermittlungsabteilung bei der Polizei Charkiw auf Facebook.

Laut Zeugenaussagen seien Gefangene mit Stromschlägen gefoltert worden. Reporter der BBC und anderer ausländischer Medien bestätigten die Angaben. Sie berichteten auch von Leichen, die in Balaklija gefunden worden seien.

Ukraine setzt Offensive fort

Nach Angaben des britischen Geheimdienstes und des US-Verteidigungsministeriums setzen die ukrainischen Truppen ihre Offensive in der Region Charkiw fort. „Wir gehen davon aus, dass die Ukrainer im Norden ihre Gewinne konsolidieren, nachdem sie ein bedeutendes Gebiet zurückerobert haben, und dass die Russen versuchen, ihre Verteidigungslinien zu verstärken, nachdem sie zurückgedrängt wurden“, sagte Pentagon-Sprecher Patrick S. Ryder.

Laut dem britischen Militärgeheimdienst errichteten die russischen Truppen eine Verteidigungslinie zwischen dem Fluss Oskil und der Stadt Swatowe: „Russland sieht es wahrscheinlich als wichtig an, die Kontrolle über diese Zone aufrechtzuerhalten, da sie von einer der wenigen Hauptversorgungsrouten durchquert wird, die Russland noch von der russischen Region Belgorod aus kontrolliert.“

Russland werde wahrscheinlich versuchen, dieses Gebiet zu verteidigen, so die Einschätzung aus London. Aber es sei unklar, ob die russischen Truppen an der Frontlinie über „ausreichende Reserven oder eine angemessene Moral“ verfügen, um einem weiteren konzertierten ukrainischen Angriff standzuhalten. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte nichtsdestotrotz weitere Angriffe auf ostukrainische Gebiete angekündigt.