Sinneswahrnehmung

Wie Tiere die Welt erleben

Insekten, die mit ihren Füßen schmecken, und Krokodilsgesichter, die so empfindlich sind wie menschliche Fingerspitzen: Der britische Wissenschaftsjournalist und Pulitzer-Preisträger Ed Yong enthüllt in seinem neuen Buch „Die erstaunlichen Sinne der Tiere“ die verblüffende und skurrile Art und Weise, wie manche Tiere mit ihren Sinnen die Welt wahrnehmen.

Die Erde ist voll von Gerüchen, Schwingungen, verschiedenen Geschmacksrichtungen, elektrischen und magnetischen Feldern – aber „jedes Lebewesen nimmt nur einen winzigen Ausschnitt einer ungeheuer großen Welt wahr“, so Wissenschaftsjournalist Yong, der für das US-Magazin „The Atlantic“ schreibt. So lebten alle Tiere in ihrer eigenen, einzigartigen Sinnesblase.

Wie unterschiedlich die Wahrnehmung von Tieren – auch innerhalb einer Tierart – sein kann, erklärt auch die Wissenschaftlerin Cliodhna Quigley vom Department of Behavioral and Cognitive Biology der Universität Wien. Im Rahmen des vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) unterstützten Forschungsprojekts „Comparative aesthetics“ untersucht ein Forschungsteam um Quigley das Schönheitsempfinden von Tieren anhand von Lachtauben. Im Video sagt Quigley gegenüber ORF.at: „Es ist nicht davon auszugehen, dass jedes Weibchen das gleiche Männchen attraktiv findet.“

Fotostrecke mit 5 Bildern

Philippinen-Koboldmaki
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Der Philippinen-Koboldmaki kommuniziert mit Ultraschall-Frequenzen, die für Menschen nicht hörbar sind
Laubfroschembryos
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Laubfrosch-Embryos setzen in ihrem Gesicht Enzyme frei, damit sie bei Gefahr schneller schlüpfen können
Delfin an der Wasseroberfläche
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Mit ihrem Sonar können Delfine Fische an der Form ihrer luftgefüllten Schwimmblase unterscheiden
Wels schwimmt zwischen Seetang
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Schwimmende Zungen: Der Körper von Welsen ist mit Geschmacksknospen übersäht
Odontodactylus scyllarus/Fangschreckenkrebs
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Fangschreckenkrebse haben ein hochkomplexes Sehvermögen: sie besitzen zwölf Klassen von Photorezeptoren und sehen vermutlich Farben wie kein anderes Tier

Für die Sinnesblase von Tieren verwendet der Wissenschaftsjournalist den Begriff „Umwelt“, den Jakob von Uexküll, ein estnischer Zoologe, 1909 in Umlauf gebracht hat. Uexküll meinte damit nicht einfach die Umgebung von einem Tier, sondern genau jenen Teil der Umgebung, den ein Tier erlebt und wahrnimmt. Uexküll betrachtete Tiere als empfindsame Wesen – und für fast ein ganzes Jahrhundert lag seine Idee der „Sinnesblase“ von Tieren auf Eis, bevor sie von modernen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aufgegriffen wurde, wie die „Washington Post“ schreibt.

Welse schmecken mit dem Körper

In den letzten Jahrzehnten ist die Forschung über die Art und Weise, wie Tiere die Welt wahrnehmen, geradezu explodiert. Yong fasst die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Sinnesbiologie zusammen und geht Sinn für Sinn vor – das Buch beginnt bei Geruch und Geschmack und endet bei magnetischen und elektrischen Feldern.

Das Buch „Die erstaunlichen Sinne der Tiere“
Verlag Antje Kunstmann
Ed Yong: „Die erstaunlichen Sinne der Tiere: Erkundungen einer unermesslichen Welt.“ Kunstmann, 528 Seiten, 36,00 Euro

Er erklärt, wie die Sinne funktionieren – manchmal reichen die Erklärungen bis in die Biochemie hinein –, und ermöglicht den Leserinnen und Lesern eine Vorstellung davon, wie es sich anfühlen könnte, ein anderes Tier zu sein. Und er bringt Erstaunliches zutage: Noch bevor etwa Laubfroschembryonen aus ihren Eiern geschlüpft sind, können sie zwischen harmlosen und gefährlichen Vibrationen unterscheiden. Sobald sie die niedrigen Frequenzen von angreifenden Schlangen wahrnehmen, setzen die Froschembryonen in ihrem Gesicht Enzyme frei, welche die Eier auflösen – und die Kaulquappen können entkommen.

Welse beschreibt der Wissenschaftsjournalist etwa als „schwimmende Zungen“, da ihr Körper vom Maul bis zum Schwanz mit Geschmacksknospen übersät ist – sie haben den umfangreichsten Geschmackssinn in der Natur. Alligatoren wiederum können mit höchst empfindlichen Verdickungen an ihrem Maul feinste Vibrationen an der Wasseroberfläche wahrnehmen und so ihre Beute aufspüren.

Sinne sind rätselhaft

Immer wieder wird deutlich, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gerade erst beginnen, die Sinne von Tieren zu begreifen – zum Beispiel wenn es um die Einschätzung geht, welche Farben ein anderes Tier sieht. Etwa das Sehvermögen von Fangschreckenkrebsen: Während etwa vier bis sieben verschiedene Farbrezeptoren in den Augen reichen, um das komplette Spektrum zu erfassen (im Tierreich sind zwei bis vier üblich), besitzen manche Fangschreckenkrebsarten zwölf Klassen von Fotorezeptoren, wie ein internationales Forschungsteam um den Biologen Justin Marshall, Leiter des Forschungslabors „Sensory Neurobiology Group“ an der University of Queensland (Australien) herausgefunden hat. Der Wissenschaftler vermutet, dass Fangschreckenkrebse nicht zwischen Schattierungen unterscheiden, sondern dass ihre Augen genau das Gegenteil tun, nämlich die vielen Farbtöne zu nur zwölf Farben zusammenzuführen.

Funkelnde Wale

Um die Umwelt eines Tieres zu verstehen, müsse man als Erstes verstehen, „wozu es seine Sinne benutzt“, schreibt Yong. Riesenkalmare haben beispielsweise die größten und empfindlichsten Augen im Tierreich (mit einem Durchmesser von 25 bis 30 Zentimetern) und leben in einem der dunkelsten Lebensräume der Erde – der Tiefsee. Yong wirft die Frage auf, warum ausgerechnet sie die größten Augen haben.

Es sind die Biolumineszenzwolken rund um Pottwale, die Riesenkalmare mit ihren Augen sehen können – und das sogar noch aus 130 Metern Entfernung. Während etwa Zahnwale ihre Beute mit Sonar aufspüren und Blauwale von winzigen Organismen leben, ist die Fähigkeit, „leuchtende Wale“ in der Dunkelheit sehen zu können, für den Riesenkalmar überlebensnotwendig.

„Tiere als Tiere“ verstehen

Am Ende seines Buches weist Yong darauf hin, welche Folgen der menschliche Einfluss auf den Planeten für Tiere hat. Etwa wenn jährlich fast sieben Millionen Vögel in den Vereinigten Staaten und Kanada sterben, weil sie mit Sendemasten kollidieren, deren rote, blinkende Lichter nachts ihre Orientierung stören. Der Journalist schreibt: „Wir haben es anderen Tieren schwerer als je zuvor gemacht, überhaupt zu existieren.“ Mit „Die erstaunlichen Sinne der Tiere“ ist Yong ein wissenschaftlich fundierter, eindringlicher Bericht gelungen, der „Tiere als Tiere“ verstehen will, wie der Journalist eingangs betont. Ein Buch, das nicht von „Überlegenheit handelt, sondern von Vielfalt“, so Yong.