Übergewicht bei Jungen

„Gestresstes System“ als Ursache

Immer häufiger sind Kinder und Jugendliche von Übergewicht oder Fettleibigkeit (Adipositas) betroffen. Die Ursachen sind komplex und individuell, soziale Faktoren spielen eine bedeutende Rolle, wie Studien zeigen. Übergewicht habe viel mit einem „gestressten System“ zu tun, sagt Daniel Weghuber, Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde Salzburg, gegenüber ORF.at.

Als Jugendliche war die 29-jährige, in Wien lebende Autorin Jaqueline Scheiber stark übergewichtig. Es war eine Mischung aus „nie einen gesunden Bezug zu Essen entwickeln können und wenig Vermittlung von gesundem Essen in ihrem Umfeld“, die dazu geführt hat, erzählt Scheiber im Videointerview gegenüber ORF.at. Sie habe lange gebraucht, um eine Wahrnehmung für ihren Körper zu entwickeln, so die Autorin.

Gemäß Daten der Studie 2019/2020 der Childhood Obesity Surveillance Initiative (COSI) sind in Österreich 30 Prozent der acht- und neunjährigen Burschen und 24 Prozent der gleichaltrigen Mädchen als übergewichtig, adipös oder extrem adipös einzustufen. Kinder, deren Eltern übergewichtig sind, haben prinzipiell ein höheres Risiko, selbst übergewichtig zu werden, sagt die Gesundheitswissenschaftlerin Rosemarie Felder-Puig von der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG).

Spätfolgen im Erwachsenenalter

Häufig weisen Kinder und Teenager mit Übergewicht oder der chronischen Erkrankung Adipositas Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf wie einen erhöhten Blutdruck und Fettstoffwechselstörungen – darüber hinaus kann das krankhafte Übergewicht zu Spätfolgen im Erwachsenenalter führen (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes) – schätzungsweise 80 Prozent der übergewichtigen Kinder werden zu übergewichtigen Erwachsenen, heißt es in einer Aussendung der Österreichischen Adipositas Gesellschaft.

Bewusst Gesund – Risiko Übergewicht, ORF
ORF

TV-Hinweis

„Bewusst gesund“-Schwerpunkt zum „Risiko Übergewicht“ bis 1. Oktober in allen Medien des ORF

Weil der Body-Mass-Index alters- und geschlechtsabhängig ist, müssen bei Kindern BMI-Referenzkurven (BMI-Perzentilkurven) verwendet werden: Ab der 90. Perzentile spricht man von Übergewicht (90. Perzentile bedeutet, dass 90 Prozent aller Kinder gleichen Geschlechts und Alters einen niedrigeren BMI aufweisen), ab der 97. Perzentile von Adipositas.

Wie soziale Faktoren beeinflussen

Die Studie der COSI zeigt, dass Kinder aus Familien mit reduziertem Einkommen und niedrigem Bildungsabschluss der Eltern mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit von Übergewicht oder Adipositas betroffen sind: Bei Familien mit niedrigerem Bildungsniveau lag die Wahrscheinlichkeit für Übergewicht bei 48 Prozent im Vergleich zu Familien mit hohem Bildungsgrad (18,2 Prozent).

Das zeigen auch Daten der zweiten Folgeerhebung der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS), die vom Robert Koch-Institut (RKI) im Zeitraum 2014 bis 2017 durchgeführt wurde: Während in der niedrigen Statusgruppe 25,5 Prozent der drei- bis 17-Jährigen übergewichtig sind, sind es in der hohen 7,7 Prozent. Und auch der Anteil der adipösen Kinder ist in sozial benachteiligten Familien mit 9,9 Prozent deutlich höher als in sozial bessergestellten Familien (2,3 Prozent).

„70 Prozent genetisch, 30 Prozent Lebensstil“

Die Entstehung von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen ist komplex und individuell, das Bewegungs- und Ernährungsverhalten spielt eine große Rolle, aber Adipositas habe auch „sehr viel mit einem gestressten System zu tun“, sagt Daniel Weghuber, Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde Salzburg. Während etwa 70 Prozent des Körpergewichts genetisch bestimmt sind, werden ca. 30 Prozent vom Lebensstil beeinflusst. Weghuber erklärt: „Wenn wir über den Einfluss der sozialen Dimension sprechen, dann sprechen wir im Wesentlichen über diese 30 Prozent.“

Familie sitzt gemeinsam beim Esstisch
Getty Images/monkeybusinessimages
Gemeinsame Mahlzeiten in der Familie können das Essverhalten von Kindern positiv beeinflussen

Psychosoziale Belastungsfaktoren bis hin zu psychischen Erkrankungen wie Depression stressen den gesamten Körper und können eine Gewichtszunahme begünstigen. Weghuber erklärt: „In Zeiten, wo wir aufgrund der Pandemie eine massive Stresssituation für viele Familien erlebt haben und erleben, ist das noch einmal pointierter zu sehen.“

Gemeinsame Zeit in Familien

Auch wie viel Zeit einer Familie gemeinsam zur Verfügung steht, spiele eine wichtige Rolle. Die Inaktivität bei Kindern und Jugendlichen sei zwar ein Kernproblem, habe aber auch mit den Ressourcen der Familie zu tun, „wie viel Aufmerksamkeit die Kinder bekommen können“, so Weghuber. Die Esskultur und gemeinsame Mahlzeiten haben einen wesentlichen Einfluss auf das Essverhalten von Kindern, sagen Expertinnen und Experten. So kann eine Vielfalt an Lebensmitteln, die Kindern unterschiedliche Geschmackserlebnisse verschaffen, das Risiko, später ins Übergewicht zu gehen, verringern.

Häufig erleben Kinder und Jugendliche Stigmatisierung, Mobbing und Ausgrenzung aufgrund ihres Körpergewichts. Das kann dazu führen, dass Betroffene Vorurteile, die ihnen aufgrund ihres Gewichts entgegengebracht werden, verinnerlichen und sich selbst abwerten, erklärt Jürgen Bell, Klinischer Psychologe und Leiter der Schulpsychologie der Bildungsdirektion für Wien, gegenüber ORF.at. Isolation, geringes Selbstwertgefühl, Depressionen oder sogar autoaggressives Verhalten können die Folge sein – sowie Essstörungen, die, wenn nichts unternommen wird, auch im Erwachsenenalter bestehen bleiben können.

Ausbau von Unterstützungsangeboten

Ein nationales Gesamtkonzept für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht und Adipositas der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde unter Beteiligung von Fachverbänden und weiteren Organisationen ist in Ausarbeitung. Erwiesenermaßen ist eine Therapie vor dem sechsten Lebensjahr etwa siebenmal so effektiv wie nach dem zwölften Lebensjahr.

Ein Netzwerk an niederschwelligen Betreuungsstrukturen, an die sich betroffene Familien wenden können, sei notwendig, betont Felder-Puig. Auf der Plattform „Adipositas-Netzwerk“ finden Betroffene Therapieangebote in ihrer Umgebung und am Institut für Frauen- und Männergesundheit (FEM Süd und MEN) werden kostenlos Gruppen zum Abnehmen und zu einer gesunden Lebensstiländerung angeboten – die Gruppen richten sich an Erwachsene in deutscher, türkischer und arabischer Sprache. Manche Familien hätten nämlich keinen Zugang zu Informationen über Ernährung, sagt Felder-Puig, und auf diese sollte der Fokus bei Präventionsmaßnahmen gerichtet werden, denn: „Viele wissen nicht, dass man von gewissen Lebensmitteln und Speisen schneller zunimmt als von anderen.“