Ein lächelnder Adnan Syed nach seiner Entlassung
Reuters/Evelyn Hockstein
Nach 23 Jahren

Wie ein Podcast ein Mordurteil umwarf

Seit Montag sorgt ein außergewöhnlicher US-Justizfall für Aufsehen. Der wegen Mordes an seiner High-School-Freundin verurteilte 41-jährige Adnan Syed wurde nach mehr als 23 Jahren Haft vorläufig entlassen, nachdem ein Gericht sein Urteil aufgehoben hatte. Der Hintergrund ist speziell: Syeds Fall war 2014 durch den US-Podcast „Serial“ bekannt geworden, der ein regelrechtes Medienphänomen wurde. Jahrelang war die hundertmillionenfach gehörte Serie der beliebteste Podcast aller Zeiten, verlieh dem Genre True Crime und der Podcast-Kultur gesamt Auftrieb – und dem Fall Syed damit Nachdruck.

In der zwölfteiligen Radioreportage hatte die US-Journalistin Sarah Koenig den bis dahin weitgehend unbeachteten Mord an der Schülerin Hae Min Lee neu aufgerollt. Die damals 18-Jährige war im Jahr 1999 in Baltimore getötet und in einem Park verscharrt worden. Ihr damals 17-jähriger Ex-Freund Syed geriet nach einem anonymen Hinweis unter Verdacht und wurde 2000 wegen Mordes zu lebenslanger Haft plus 30 Jahren verurteilt. Er beharrte stets auf seiner Unschuld.

Die Journalistin recherchierte den Fall 2014 frisch nach und warf dabei zahlreiche Fragen zu den Ermittlungen, zum Prozess und damit der Rechtmäßigkeit des Urteils auf. Unter anderem wurden Fährten zu einer möglichen Entlastungszeugin und anderen Verdächtigen nachgegangen und die Beweiskraft von Mobilfunkdaten hinterfragt, die Sayed am Tatort verorteten. Eine „Smoking Gun“ – sprich einen eindeutigen Schuldbeweis – konnte der Podcast aber nicht liefern – und Koenig wurde wiederholt vorgeworfen, sie habe sich von Sayed einwickeln lassen.

Zwischen Popphänomen und Justizkritik

Das aufwendig recherchierte, mit Tonaufnahmen aus dem Verhörraum angereicherte und durchaus spannend gestaltete Serienformat wurde im Verlauf von drei Monaten veröffentlicht und erwies sich als popkulturelles Phänomen mit nachhaltigem Einfluss. „Serial“ habe Podcasts in den kulturellen Mainstream gebracht, stellte das Komitee des renommierten Peabody Awards fest, als es Koenig 2015 den Fernsehpreis verlieh. Gleichzeitig trat der Podcast eine regelrechte True-Crime-Welle los, die bis heute nicht abflauen will.

Adnan Syed in Polizeibegleitung in einem Gericht in Baltimore (US-Bundesstaat Maryland)
Reuters/Carlos Barria
Syed kämpft schon seit Jahren um die Aufhebung seines Urteils

Wie sich heute zeigt, waren auch die Auswirkungen für den Fall Sayed selbst gravierend. Einerseits mobilisierte es zahllose Hobbyermittler und -ermittlerinnen, andererseits zog es breite Kritik an der US-Justiz nach sich. Diese gerät regelmäßig wegen Fehlurteilen in die Kritik, doch wie viele solcher Fälle aufgrund fehlenden Echos wieder versanden oder gleich im Dunklen bleiben, ist unklar.

„Neue Informationen“ brachten Wende

Im Fall Syed sorgte die breite Öffentlichkeit hingegen dafür, dass sich die Justiz 2016 der Causa erneut annahm. Der Fall ging jahrelang durch mehrere Instanzen, zahlreiche Revisionsanträge wurden dabei abgelehnt. Doch nun kam am Montag die Wende: Ein Gericht im US-Bundesstaat Maryland hob das Urteil gegen den 41-Jährigen auf, nachdem die zuständige Staatsanwältin in der Vorwoche diesen Schritt beantragt hatte.

Grund dafür seien „neue Informationen“ zu zwei möglichen weiteren Verdächtigen sowie „unzuverlässige Mobilfunkdaten“. Es gebe nach einjährigen Ermittlungen „schwerwiegende Zweifel an der Zuverlässigkeit der wichtigsten Beweismaterialien“ und „kein Vertrauen in die Integrität der Verurteilung“, so die Staatsanwältin. Syed verdiene „einen neuen Prozess, in dem er angemessen verteidigt wird und die neuesten Beweismittel vorgelegt werden können“, erklärte die Staatsanwältin. Betont wurde gleichzeitig, dass das kein Beweis für Syeds Unschuld sei.

Podcasterin Sarah Koenig
Reuters/Jonathan Ernst
„Serial“-Schöpferin Sarah Koenig bei der Freilassung. Sie berichtet derzeit auch über die neuen Entwicklungen.

Syed solle auf freien Fuß kommen, während die Staatsanwaltschaft prüft, ob das Verfahren neu aufgerollt oder die Vorwürfe gegen ihn fallengelassen werden sollen. Dafür hat die Staatsanwaltschaft 30 Tage Zeit. Mit der Entscheidung des Gerichts werde Syed nun aus dem Gefängnis entlassen und zunächst unter Hausarrest gestellt, berichteten US-Medien. Er äußerte sich bei seiner Freilassung nicht, wurde aber von jubelnden Unterstützerinnen und Unterstützern empfangen.

Die Familie des Opfers hatte sich stets überzeugt von Syeds Schuld gezeigt. Sie übte laut „New York Times“ Kritik daran, nicht rechtzeitig über die Entscheidung in Kenntnis gesetzt worden zu sein. „Das ist kein Podcast für mich“, so der Bruder des Mordopfers in einem Termin mit dem Gericht. „Das ist das echte Leben – ein nicht enden wollender Alptraum seit mehr als 20 Jahren.“ Er fühle sich „betrogen“ und „überrumpelt“ und sei frustriert über die vielen Wendungen, die der Fall nehme. Gleichzeitig sei er nicht gegen einen neuen Prozess und habe Vertrauen darin, dass die Justiz Recht sprechen werde.

„Außergewöhnlich, alles daran“

Die Entlassung sei „außergewöhnlich, alles daran“, so „Serial“-Schöpferin Koenig in einer eigens produzierten neuen Sonderepisode. In dieser beschreibt Koenig, dass unter anderem handgeschriebene Notizen in den erneut durchgesehenen Ermittlungsakten die Wende gebracht hätten. Laut den Notizen habe es unabhängig voneinander eingelangte anonyme Hinweise auf zwei Verdächtige gegeben, denen nicht ausreichend nachgegangen worden sei. Diese neuen Informationen hätten allerdings ausgereicht, um die Beweiskraft des gesamten Verfahrens zu untergraben.

Der Fall „war ein Chaos und ist nach wie vor ein Chaos“, so Koenig. Er weise „jedes chronische Problem auf, das unser System hat. Eine Polizei, die fragwürdige Verhörmethoden anwendet. Staatsanwälte, die Beweise von der Verteidigung zurückhalten. Fragwürdige wissenschaftliche Zugänge. Extreme Haftstrafen. Jugendliche, die wie Erwachsene behandelt werden. Wie zermürbend schwierig es ist, einen Fall wieder vor Gericht zu bringen, sobald man verurteilt ist“, so Koenig. Das System habe mehr als 20 Jahre gebraucht, um sich selbst zu korrigieren – und das nur in diesem einen Fall.