Ein Bub steht vor einem Flüchtlingslager im Norden Syriens
Reuters/Khalil Ashawi
Geflüchtete in Syrien

TikTok kassiert bei Bettelvideos groß ab

Dem sozialen Netzwerk TikTok wird die Ausbeutung der Ärmsten der Armen vorgeworfen. Laut Recherchen der BBC behält der chinesische Konzern den Löwenanteil an Spenden ein, den Kinder von Geflüchteten in syrischen Lagern per Livestream erbetteln. Auf Nachfrage der BBC erklärte der chinesische Konzern, dass solche Bettelvideos auf der Plattform eigentlich verboten seien.

Laut BBC gibt es Hunderte Familien, die aus Flüchtlingslagern im Nordwesten Syriens stundenlange Livestreams auf TikTok senden, um mit Spenden ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. TikTok bietet bei Livestreams an, den Videomacherinnen und -machern „Geschenke“ als eine Art Belohnung und Trinkgeld zukommen zu lassen. Geschenkt werden können Symbole, die einen bestimmten Münzwert haben.

Sammelt man diese, kann man sie in „Diamanten“ und schließlich in Geld eintauschen. Im Regelfall behält TikTok 50 Prozent der Summen ein. In einem von der BBC fingierten Stream behielt das Unternehmen aber 69 Prozent ein.

Vermittler stellen Equipment zur Verfügung

Und auch das bleibt den Familien nicht. Denn abgewickelt werden die Streams zumeist über „TikTok-Vermittler“, die den Familien die Telefone und die Ausrüstung zur Verfügung stellen, um live zu senden. Die BBC sprach mit einem von ihnen. Hamid erzählte dem Sender BBC, dass er sein Vieh verkauft habe, um ein Mobiltelefon, eine SIM-Karte und eine WLAN-Verbindung für die Arbeit mit den Familien auf TikTok zu erwerben.

Da der TikTok-Algorithmus Inhalte auf der Grundlage der geografischen Herkunft der Telefonnummer eines Nutzers oder einer Nutzerin vorschlägt, bevorzugen die Mittelsmänner die Verwendung von britischen SIM-Karten, da man Menschen aus Großbritannien als besonders spendabel einstuft. Inzwischen sendet Hamid mit zwölf verschiedenen Familien mehrere Stunden am Tag. Für seinen Aufwand werde er aus den Spenden entlohnt.

Ein Flüchtlingslager im Norden Syriens
Reuters/Khalil Ashawi
Geschätzte 1,7 Millionen Binnenflüchtlinge leben im Nordwesten von Syrien, hier ein Lager in Idlib

Agenturen mit direktem Kontakt zum Konzern

Doch die Vermittler sind nicht die letzten, die an den Geldern mitschneiden: Sie arbeiten laut BBC mit an TikTok angeschlossene Agenturen in China und im Nahen Osten zusammen, die den Familien Zugang zu TikTok-Konten verschaffen. Diese Agenturen sind Teil der globalen Strategie von TikTok, um Livestreamer zu rekrutieren und Nutzerinnen zu ermutigen, mehr Zeit mit der App zu verbringen.

„Sie helfen uns, wenn wir irgendwelche Probleme mit der App haben. Sie schalten gesperrte Konten frei. Wir geben ihnen den Namen der Seite und das Profilbild, und sie eröffnen das Konto“, sagte Hamid der BBC. TikTok zahlt den Agenturen eine Provision, die sich nach der Dauer der Livestreams und dem Wert der erhaltenen Geschenke richtet. Dass es für längere Streams mehr Geld gibt, hat zur Folge, dass die syrischen Familien, einschließlich der Kinder, stundenlang live senden.

Von 106 Dollar Spenden kamen 19 an

In einer Undercover-Recherche ließ sich die BBC einen solchen Spendenlivestream einrichten und überwies aus Großbritannien 106 Dollar. Am Ende des Livestreams betrug der Kontostand des syrischen Testkontos 33 US-Dollar. TikTok hatte 69 Prozent für sich behalten. Das Einlösen des Betrags in einem lokalen Geldtransfergeschäft kostete weitere zehn Prozent, TikTok-Zwischenhändler behielten 35 Prozent des Restbetrags ein. Der Familie blieben von den 106 Dollar am Ende 19.

Reaktion erst nach offizieller Anfrage

Die Regeln von TikTok besagen, dass man 1.000 Followerinnen und Follower haben muss, bevor man live gehen kann, dass man nicht direkt um Geschenke werben darf und dass man „die Schädigung, Gefährdung oder Ausbeutung“ von Minderjährigen auf der Plattform verhindern muss. Als die BBC anonym das appinterne Meldesystem nutzte, um 30 Accounts mit bettelnden Kindern zu melden, erklärte TikTok, dass in keinem der Fälle ein Verstoß gegen seine Richtlinien vorliege.

Erst als die BBC direkt eine Anfrage an TikTok richtete, reagierte das Unternehmen. In einer Erklärung hieß es: „Wir sind zutiefst besorgt über die Informationen und Anschuldigungen, die uns von der BBC zugetragen wurden, und haben sofortige und strenge Maßnahmen ergriffen.“ Diese Art von Inhalten seien auf der Plattform nicht erlaubt und es wurde angekündigt, die „globalen Richtlinien gegen ausbeuterisches Betteln“ weiter zu verschärfen. Das Unternehmen sperrte auch umgehend die Accounts einiger Familien. Die BBC konnte eine lokale Hilfsorganisation dafür gewinnen, die betroffenen Familien nach dem Ausfall ihrer Einnahmequelle zu unterstützen.