Mann auf Flughafen zieht Koffer mit der Schrift „Russia“
Reuters/Photolure
Flucht, Geburtenrate

Russland auf Weg zu „demografischem Crash“

Rund acht Monate nach dem Einmarsch in die Ukraine zeichnen sich immer deutlicher die Auswirkungen des Krieges auf Russlands Bevölkerung ab. Vollkommen außer Reichweite sind einem Medienbericht zufolge die früheren Pläne von Kreml-Chef Wladimir Putin zur Lösung der Bevölkerungskrise, deren Wurzeln in der Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1990er Jahren liegen. Das Problem habe sich zuletzt wohl ganz im Gegenteil nachhaltig verschärft.

Neben Tausenden von Opfern auf den Kriegsschauplätzen hätten die Teilmobilmachung und die dadurch ausgelöste Fluchtbewegung Putins Ziel, die Bevölkerung bereits in diesem Jahr zu stabilisieren, zunichtegemacht, heißt es dazu beim Nachrichtenportal Bloomberg. Den Angaben zufolge hat diese Eskalation des Ukraine-Krieges Russlands Weg Richtung „demografischen Crash“ deutlich verschärft. Die vom Kreml gesteckten Ziele seien aber bereits vor der Teilmobilmachung als „unrealistisch“ eingestuft worden, wie laut Bloomberg aus einem internen, von russischen Beamten verfassten Bericht hervorgeht.

Putins lange mit oberster Priorität vorangetriebene Pläne sahen laut Bloomberg vor, den Bevölkerungsrückgang ab dem Jahr 2022 umzukehren, ab 2030 sollte Russlands Bevölkerung schließlich wieder wachsen. Unter Verweis auf die Folgen des Coronavirus und die Abwanderung schlug der von Bloomberg kolportierte russische Bericht stattdessen eine Revision vor, die für 2030 weiter einen Rückgang von mehr als 400.000 Personen vorsah.

Geburten vor historischem Tiefstand

Mit Blick auf das nicht absehbare Ende des Ukraine-Krieges steuere Russland auf eine historisch niedrige Geburtenrate hin, so der Igor Efremow vom Moskauer Gaidar-Institut, der laut Bloomberg für das nächste Jahr 1,2 Millionen Geburten bei fast zwei Millionen Todesfällen prophezeit. Sollte der Krieg bis zum nächsten Frühjahr dauern, könnten es laut Efremow in den zwölf Monaten bis Mitte 2024 sogar nur noch eine Million Geburten sein.

„Die Bevölkerung Russlands ist rückläufig, und der Krieg wird sie weiter reduzieren“, zitiert Bloomberg dazu den russischen Ökonomen Alexander Isakow, der neben der anhaltend geringen Geburten- und Fruchtbarkeitsrate sowie den „kriegsbedingten Verlusten“ als weiteren zentralen Punkt die Auswanderung anführt. In diesem Zusammenhang verweist die in Washington sitzende Jamestown-Organisation auf die seit dem Vorjahr gänzlich geänderten Vorzeichen. So habe die Zuwanderung 2021 noch eine „höhere Zahl der Sterbefälle im Vergleich zu den Geburten teilweise kompensiert“ – nun habe man es mit verstärkter Abwanderung und damit einhergehend einem Rückgang der Gesamtbevölkerung zu tun.

Hunderttausende vor Teilmobilmachung geflohen

Die Lage hat sich mit Putins Teilmobilmachung verschärft: Medienberichten zufolge haben in den ersten drei Rekrutierungswochen 700.000 weitere Russen das Land verlassen. Für Russland komme das einem enormen „intellektuellen Aderlass“ gleich, hieß es dazu in einem vom britischen Verteidigungsministerium Ende September publizierten Geheimdienstbericht. „Unter denjenigen, die versuchen, Russland zu verlassen, sind die Bessergestellten und Gutausgebildeten überrepräsentiert“.

Wenn man auch die Einberufenen berücksichtige, dürften die binnenwirtschaftlichen Auswirkungen enorm sein, hieß es weiter. Die Behörde verwies auf die geringere Verfügbarkeit von Arbeitskräften und einen rasanten Brain-Drain, also den Verlust von Fachkräften etwa in den Technikbranchen. Medienberichten zufolge haben seit Kriegsbeginn unter anderem Zehntausende IT-Experten Russland Richtung Westen, aber auch der angrenzenden ehemaligen Sowjetrepubliken verlassen. Für letztere benötigen Russen kein Einreisevisum – zudem werden die meist gut ausgebildeten Fachkräfte mit offenen Armen empfangen.

„Willkommen in Kirgistan“

Für Länder wie Kirgistan, Georgien, Aserbaidschan, Armenien und Kasachstan, die „von Russen lange Zeit als Reservoirs für billige Arbeitskräfte abgetan wurden“, handle es hingegen um eine „eine Chance, die qualifizierten Arbeitskräfte zu gewinnen, die sie dringend benötigen“, schreibt dazu der ehemalige kirgisische Ministerpräsident Dschmoart Otorbajew in einem unter anderem im IPG-Journal der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichten Gastbeitrag. Hinweise auf das Ausmaß der Auswanderungswelle geben jeweils mehrere Zehntausende Abonnenten zählende Telegram-Kanäle wie „Umzug nach Kasachstan“ und „Willkommen in Kirgistan“.

Aus den Hotspots der einreisenden Russen wird zudem von vollen Hotels und steigenden Mieten berichtet – und laut Otorbajew sind einige Mieter zugunsten von besser zahlenden Russen bereits zwangsweise aus ihren Wohnungen ausquartiert worden.