Blick auf die Stadt Cherson
APA/AFP/Andrey Borodulin
Cherson

Prorussische Verwaltung flieht über Dnipro

Nachdem der neue Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte in der Ukraine, Sergej Surowikin, in einem ungewohnten TV-Auftritt eine „schwierige Lage“ an der Front in der ukrainischen Region Cherson eingestanden hat, überschlagen sich dort offenbar die Ereignisse. Russischen Angaben zufolge werde Zivilpersonen für sieben Tage der Zutritt zur Region verwehrt. Dazu kommt eine offenbar großangelegte Evakuierungsaktion – angesichts eines befürchteten ukrainischen Großangriffes soll auch die prorussische Verwaltung über den Fluss Dnipro aus der Stadt gebracht werden.

„Ab heute werden alle Regierungsstrukturen der Stadt, die zivile und militärische Verwaltung, alle Ministerien, an das linke Flussufer (des Dnipro, Anm.) verlegt“, sagte der prorusssiche Verwaltungschef der Region Cherson, Wladimir Saldo, am Mittwoch dem russischen Sender Rossija 24.

Während die russische Armee in der Stadt bleibe und diese „bis zum Tod“ verteidigen werde, sollen nach Saldos Angaben in den kommenden Tagen auch rund 50.000 bis 60.000 Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt an das Ostufer des Dnipro oder nach Russland gebracht werden.

Grafik zur Lage im Gebiet Cherson in der Ukraine
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: ISW

Benachrichtigung per SMS

Saldos Stellvertreter Kirill Stremousow forderte die Zivilbevölkerung über den Messengerdienst Telegram zum Verlassen der Hauptstadt Cherson der gleichnamigen Region auf, in der vor dem Krieg fast 300.000 Menschen lebten. Das ukrainische Militär werde in Kürze eine Offensive auf die Stadt beginnen, sagte Stremousow. „Ich fordere Sie auf, meine Worte ernst zu nehmen und sie umzusetzen: die schnellstmögliche Evakuierung“, schrieb er in der Nacht auf Mittwoch.

Die Räumung der Stadt ist russischen Angaben zufolge bereits angelaufen. Staatliche Medien zeigten Bilder, auf denen zu sehen ist, wie Menschen mit Fähren über den Fluss auf die andere Seite gebracht werden. Der Agentur TASS zufolge wurden die Bewohner des Gebiets per SMS von den Plänen informiert. 5.000 Menschen hätten Cherson bereits in den vergangenen zwei Tagen verlassen.

Surowikin spricht von „schwierigen Entscheidungen“

Die Situation könne als angespannt bezeichnet werden, sagte General Surowikin zuvor dem Sender Rossija 24. Er stellte „schwierige Entscheidungen“ in den Raum. Den ukrainischen Streitkräften warf er den Beschuss von Wohnhäusern und der Infrastruktur der Stadt vor. Durch Artillerietreffer habe die Ukraine die Übergänge über den Dnipro unpassierbar gemacht. Das erschwere die Versorgung der Stadt.

„Wir werden bedacht und rechtzeitig handeln und schließen auch schwierige Entscheidungen nicht aus“, sagte Surowikin. Das wurde als Hinweis auf einen möglichen Rückzug verstanden. Den russischen Angaben zufolge habe die ukrainische Armee im Süden der Region Cherson zuletzt Zehntausende Soldaten zusammengezogen. Noch sei die Lage „stabil“, so Stremousow – man erwarte aber einen Angriff.

„Popagandashow mit Evakuierungen“

Die Ukraine warf dagegen Russland Propaganda vor. „Die Russen versuchen, die Menschen in Cherson mit falschen Newslettern in Angst und Schrecken zu versetzen, wonach unsere Armee die Stadt beschießt, und sie bereiten auch eine Propagandashow mit den Evakuierungen vor“, schrieb Andrij Jermak, Chef des ukrainischen Präsidialamtes, in seinem Telegram-Kanal. „Propaganda wird nicht funktionieren.“

Putin verhängt Kriegsrecht

Cherson fiel im März – also kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen das Nachbarland – als einzige ukrainische Gebietshauptstadt in russische Hand. Kreml-Chef Wladimir Putin verkündete vor rund drei Wochen den Anschluss des Gebiets an Russland. International wird die völkerrechtswidrige Annexion nicht anerkannt. Gleichzeitig steht Cherson seit Wochen im Fokus einer großen ukrainischen Gegenoffensive zur Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete. Die russischen Soldaten am rechten Dnipro-Ufer gelten schon länger als weitgehend abgeschnitten.

Nach mehreren Rückschlägen für die russische Armee und einer folgenschweren Explosion auf der Brücke, die Russland mit der 2014 annektierten Krim verbindet, hatte Putin den Befehl erstmals in eine Hand gelegt und Surowikin zum Oberbefehlshaber für den von Russland als „spezielle Militäroperation“ bezeichneten Krieg gemacht. Unmittelbar auf Surowikins Kommandoübernahme folgten schwere russische Raketenangriffe auf Ziele in der Ukraine, darunter auch im Zentrum der Hauptstadt Kiew.

So wie in den weiteren von Russland annektierten Regionen Luhansk, Donezk und Saporischschja verhängte Putin am Mittwoch auch für Cherson das Kriegsrecht. Ein entsprechendes Dekret habe er bereits unterschrieben, sagte Putin. Damit gehen erweiterte Machtbefugnisse für die russischen Besatzungsverwaltungen in den vier Regionen einher.

30 Prozent der E-Werke zerstört

Im Fokus der russischen Streitkräfte bleiben militärische Ziele und Energieanlagen der Ukraine. Das russische Verteidigungsministerium meldete am Mittwoch weitere Luftangriffe. Auch in Kiew gab es wieder Luftalarm. AFP-Angaben zufolge waren in der ukrainischen Hauptstadt mehrere Explosionen zu hören. Bei Angriffen mit Kampfdrohen wurden in Kiew in den vergangenen Tagen mehrere Menschen getötet. Bei den Angriffen auf die Energieinfrastruktur fiel in mehreren Regionen des Landes der Strom aus.

„Die Lage ist jetzt im ganzen Land kritisch“, hieß es am Dienstag aus dem Präsidialamt in Kiew. Laut Staatschef Wolodymyr Selenskyj zerstörte Russland binnen einer Woche 30 Prozent der ukrainischen Elektrizitätswerke. Laut den staatlichen Notfalldiensten waren am Dienstag mehr als 1.100 Orte ohne Strom.

Die ukrainischen Luftstreitkräfte zerstörten nach eigenen Angaben seit Mitte September 223 iranische Drohnen. Teheran bestritt zuletzt wiederholt, Waffen und Drohnen an Russland zu liefern. Wie die Europäische Union jedoch am Mittwoch bekanntgab, habe sie „hinreichende Beweise“, dass von Russland gegen die Ukraine eingesetzte Drohnen aus dem Iran stammen. Diplomaten zufolge bereiten die Botschafter der EU-Staaten nun weitere Sanktionen gegen den Iran vor.