Russische Soldaten wachen auf Straße
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Ukraine

Russische Behörden gründen Miliz in Cherson

Russland geht von einer bevorstehenden ukrainischen Offensive im südukrainischen Cherson aus. Seit Tagen wird das Gebiet evakuiert. Am Montag teilten die von Russland eingesetzten Behörden mit, dass eine neue paramilitärische Miliz gegründet wurde. Männer, die in Cherson bleiben wollten, hätten die „Möglichkeit“, sich den Einheiten der Territorialverteidigung anzuschließen, wurde von den Besatzungsbehörden via Telegram mitgeteilt.

Männer in anderen besetzten ukrainischen Regionen wie Donezk wurden zuvor gezwungen, sich den Milizen der russischen Stellvertreter im Krieg mit der Ukraine anzuschließen und dort zu kämpfen. Mit der Verhängung des Kriegsrechts in den besetzten und annektierten Regionen durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin wurden die von Russland eingesetzten Verwaltungen ermächtigt, die Mobilisierung zu verstärken. Cherson ist eine von vier ukrainischen Regionen, die Russland im September annektierte.

Zivilisten zum Dienst in den Streitkräften einer Besatzungsmacht zu zwingen ist ein Verstoß gegen die Genfer Konventionen über das Verhalten im Krieg. In den vergangenen Tagen riefen die russischen Behörden zur Evakuierung von Cherson auf. Am Wochenende hieß es, dass 25.000 Menschen über den Fluss Dnipro gebracht worden seien.

Personen aus Cherson auf Bahnsteig in Russland
APA/AFP/Stringe
Laut russischen Behörden wurden bisher 25.000 Menschen aus Cherson gebracht

Britischer General: „Unvermeidliche Niederlage“

„Wir haben allen Leuten, die uns heute gehört haben, vorgeschlagen, die Möglichkeit zu nutzen und in den linksufrigen Teil des Gebiets Cherson zu gehen“, sagte Kirill Stremousow, der Vizechef der russischen Besatzungsverwaltung, am Sonntag. Zudem erklärte er, dass die Lage stabil sei und die Verteidigungslinien verstärkt würden.

Der ehemalige Chef der britischen Armee, General Richard Dannett, rechnete gegenüber Sky News mit einer „unvermeidlichen Niederlage“ der russischen Armee bei Cherson. Putins Truppen würden versuchen, ihr Gesicht zu wahren, um ihre Niederlage „weniger chaotisch“ erscheinen zu lassen. Russland nehme die ukrainische Energieinfrastruktur ins Visier, da die russischen Truppen an der Front „immer noch im Hintertreffen“ seien.

Ukraine erwartet keinen russischen Rückzug

In den letzten Wochen hat sich die Lage der russischen Armee im Gebiet Cherson deutlich verschlechtert – speziell am nordwestlichen Ufer des Dnipro. Der Nachschub ist durch den ukrainischen Beschuss der Brücken nahezu zum Erliegen gekommen.

Der ukrainische Militärgeheimdienst erwartet keinen Abzug russischer Truppen aus der besetzten Stadt Cherson. Im Gegenteil bereite sich die russische Armee auf eine Verteidigung der Stadt vor, sagte der Leiter des Geheimdienstes, Kyrylo Budanow. „Die russischen Besatzer erwecken nur die Illusion, dass sie Cherson verlassen, tatsächlich bringen sie aber neue Militäreinheiten dorthin“, sagte er der „Ukrajinska Prawda“. Unabhängig überprüfbar waren Budanows Angaben ebenso wenig wie die der russischen Seite zur Lage in Cherson.

Budanow nahm auch Stellung zu der befürchteten Sprengung des Kachowka-Staudamms durch Russland. Damit würde eine Umweltkatastrophe hervorgerufen werden, das würde den Vormarsch der ukrainischen Truppen aber nur wenig verlangsamen. Zudem ginge ein für die annektierte Halbinsel lebenswichtiger Kanal mit der Dammsprengung verloren, sagte Budanow. „Natürlich würden sie unseren Vormarsch für eine gewisse Zeit erschweren. Und das ist übrigens keine sehr lange Zeitspanne, etwa zwei Wochen oder so.“

Kampf gegen iranische Drohnen

Für die Attacken gegen Energieinfrastruktur setze Russland weiterhin auf iranische Kampfdrohnen, teilte das britische Verteidigungsministerium am Montag mit. Dagegen wehre sich die Ukraine erfolgreich. Die Drohnen seien langsam, laut und würden in geringer Höhe eingesetzt.

Damit seien sie recht einfach abzuschießen. Offiziellen ukrainischen Angaben zufolge würden bis zu 85 Prozent der Angriffe abgefangen. Mutmaßlich nutze das russische Militär die Kampfdrohnen als Ersatz für russische Langstreckenpräzisionswaffen, die immer rarer würden.

Dementis zu Vorwürfen radioaktiver Bombe

In der Nacht auf Montag gab es von westlicher und ukrainischer Seite deutliche Dementis zu den russischen Vorwürfen, dass die Ukraine eine radioaktive „schmutzige Bombe“ plane, um deren Einsatz Russland in die Schuhe zu schieben. Das hatte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu in Telefonaten mit Ministern der NATO-Staaten Großbritannien, Frankreich und Türkei behauptet. Ungewöhnlich war, dass Schoigu und US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am Sonntag zum zweiten Mal in drei Tagen miteinander telefonierten.

Als eindeutig falsch wiesen die USA, Frankreich und Großbritannien in einem gemeinsamen Statement die russische Behauptung zurück. „Die Welt würde jeden Versuch durchschauen, diese Behauptung als Vorwand für eine Eskalation zu nutzen.“ Auch die Ukraine dementierte vehement. „Wenn jemand in unserem Teil Europas Atomwaffen einsetzen kann, dann ist das nur einer – und dieser eine hat dem Genossen Schoigu befohlen, dort anzurufen“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj unter Anspielung auf Putin.

Experte: Moskau könnte versucht sein, „etwas zu tun“

Angesichts der ukrainischen Erfolge in Cherson und der westlichen Unterstützung für Kiew könnte Moskau versucht sein, „etwas zu tun“, meinte der Experte Alexander Gabuev von der US-Denkfabrik Carnegie. Putin werde eine Niederlage nicht hinnehmen. Die eng getakteten Gespräche zwischen Austin und Schoigu nach fünf Monaten Funkstille erregten Besorgnis.

Weniger dramatisch schätzte der US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) die Lage ein: Schoigus Äußerungen bereiteten keine russische Operation unter falscher Flagge vor, sie sollten die NATO-Länder einschüchtern und von der Hilfe für Kiew abhalten. Ähnlich argumentierte der Moskauer Politologe Wladimir Frolow: Russland könne das ukrainische Militär nicht stoppen und wende sich deshalb an die Staaten, die Einfluss auf die Ukraine hätten.