Kim Jong Un
AP/KCNA/KNS
Raketentests

Kim setzt auf gezielte Eskalation

Seit Jahren provoziert Nordkorea mit Raketentests. Die Häufung und Reichweite der aktuellen Abschüsse hat Experten zufolge aber eine neue Dimension erreicht. Die Sorge vor einem kurz bevorstehenden Atomtest wächst. Der nordkoreanische Machthaber Kim Jong Un will sein Land als Atomstaat positionieren. Mit seiner gezielten Eskalation buhlt er nicht zuletzt um die Aufmerksamkeit der USA.

Schon seit Ende September gibt es eine besonders hohe Frequenz an Raketentests in Nordkorea. In den vergangenen Tagen häuften sich diese weiter. Alleine am Mittwoch wurden über 20 Raketen an der Ost- und Westküste abgeschossen – so viele wie noch nie an einem Tag. Dabei wurde auch die Seegrenze zwischen Nord- und Südkorea überschritten. Südkorea reagierte mit dem Abschuss eigener Raketen ins offene Meer nördlich der Grenzlinie.

Am Donnerstag wurden nach Angaben japanischer Medien zumindest sechs Raketen gezündet. Eine davon dürfte eine atomwaffenfähige Interkontinentalrakete mit einer Reichweite von mehreren tausend Kilometern gewesen sein. Nach Angaben des südkoreanischen Militärs schlug diese Interkontinentalrakete allerdings „vermutlich fehl“. Sie ging im Pazifik rund 1.100 Kilometer östlich Japans nieder. Die USA, Südkorea und Japan verurteilten den Abschuss auf das Schärfste. Japan hatte vorsorglich Bewohnerinnen und Bewohner im Nordosten und Zentrum des Landes aufgerufen, zur Sicherheit in ihren Häusern zu bleiben.

ein südkoreanischer Fernsehsender überträgt einen Raketentest aus Nordkorea
AP/Ahn Young-Joon
Nordkorea erhöhte seit Ende September die Zahl der Raketentests

Artelleriesperrfeuer auf „maritime Pufferzone“

Nordkorea schoss in der Nacht auf Freitag auch Artilleriesperrfeuer auf die „maritime Pufferzone“ im Seegebiet zwischen Nord- und Südkorea. Dem südkoreanischen Militär zufolge schoss Nordkorea am Donnerstagabend um 23.28 Uhr Ortszeit (15.28 Uhr MEZ) 80 Artilleriegeschosse ab, die in der Pufferzone landeten. Der Beschoss sei eine „eindeutige Verletzung“ des Abkommens, mit dem die Pufferzone eingerichtet worden war, erklärten die Generalstabschefs Südkoreas.

Südkorea reagierte am Freitag mit erhöhter Alarmbereitschaft auf die Mobilisierung von Kampfjets in Nordkorea. „Unser Militär hat etwa 180 nordkoreanische Kriegsflugzeuge erfasst“, erklärten Seouls Generalstabschefs. Südkorea habe daraufhin „80 Kampfjets in Bereitschaft versetzt“, darunter auch Tarnkappen-Kampfflugzeuge. Auch Flugzeuge, die in die gemeinsamen Militärübungen mit den USA eingebunden sind, blieben demnach „in Bereitschaft“. Den Angaben des Generalstabs zufolge erfolgte die Mobilisierung der nordkoreanischen Kampfjets im Luftraum der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang.

„Rücksichtslose“ Luftwaffenübung

Für die Frage, warum Kim derzeit so stark an der Eskalationsschraube dreht, gibt es unterschiedliche Erklärungen. Die Luftstreitkräfteübung ist eine davon – aber nicht die einzige. Nordkorea betrachtet das Manöver als „rücksichtslose“ militärische Provokation. Besonders problematisch für Nordkorea seien die US-Tarnkappenjets F-35, die für die nordkoreanische Luftabwehr schwer zu erfassen seien, sagte der Politologe Mason Richey gegenüber Reuters.

Die aktuellen Starts von Raketen seien nicht die übliche Reaktion auf die Manöver der Alliierten gewesen, analysierte der US-Experte Adam Mount. Sie erfolgten, um die Spannungen zu verschärfen. Bereits 2010 und 2017 setzte Pjöngjang auf ein ähnliches Muster: Sorgen vor einer Eskalation vorantreiben und dann insbesondere von Südkorea, Japan und den USA Zugeständnisse fordern.

Der gleichzeitige Abschuss von Kurz- und Langstreckenraketen und anderen Waffen sei bedenklich, weil er darauf hindeute, dass Nordkorea Angriffe auf weit entfernte US-Ziele während eines militärischen Konflikts auf der Halbinsel übe, so Mount.

„Diese Aggression noch nie zuvor gesehen“

Kim Jong Dae, ein ehemaliger Berater des südkoreanischen Verteidigungsministeriums, sieht in der derzeitigen Situation eine neue Stufe der Eskalation. Bisher habe Nordkorea erst Vergeltung geübt, wenn Militärübungen bereits beendet waren, nun gab es Raketentests während des Manövers: „Wir haben diese Kühnheit und Aggression noch nie zuvor gesehen, das ist etwas ganz anderes. Der Norden verhält sich wie ein Atomstaat“, sagte er gegenüber der BBC.

Zudem gebe es nicht den einen Ausgangspunkt von Raketentests, der präzise getroffen werden könne, sondern mehrere, so der Nordkorea-Experte: „Nordkorea droht mehrdimensional, systematisch und gleichzeitig damit, dass es überall in seinem Land (Raketen, Anm.) abfeuern kann. Das ist eine Situation, die ich zum ersten Mal erlebe.“

IAEA sieht Hinweise auf Atomtest

Nach Angaben südkoreanischer und US-amerikanischer Beamter hat Nordkorea alle technischen Vorbereitungen auf einen Atomwaffentest abgeschlossen. Der letzte fand 2017 statt. Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, sagte erst vergangene Woche, dass sich die Hinweise auf einen bevorstehenden Atomwaffentest durch Nordkorea mehren. Ein Atomwaffentest wäre eine weitere Bestätigung dafür, dass das Programm „auf unglaublich besorgniserregende Weise mit Volldampf voranschreitet“.

Grafik: Raketentests in Nordkorea
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/CSIS

Atomtests inmitten erhöhter Spannungen könnten die Wahrnehmung der USA und ihrer Verbündeten beeinflussen. Je mehr Kim die Gefährlichkeit Nordkoreas demonstriert, umso mehr erhofft er sich, Zugeständnisse aushandeln zu können.

Nordkorea auf das internationale Tapet bringen

Kim buhlt um internationale Aufmerksamkeit insbesondere der USA, wo in der kommenden Woche Kongresswahlen stattfinden. „Auf politischer und diplomatischer Ebene geht es Kim darum, die Vereinigten Staaten vor den Zwischenwahlen zu einer Abkehr von ihrer feindseligen Politik zu bewegen, indem er den Wählern deutlich macht, dass die Nordkorea-Politik der Regierung (von US-Präsident Joe, Anm.) Biden gescheitert ist“, sagte der Nordkorea-Experte Yang Moo Jin gegenüber Reuters.

Angesichts des Ukraine-Krieges und des autoritären Kurses Chinas sind Nordkorea und eine Lockerung des Sanktionsregimes auf der internationalen Agenda nach unten gerutscht. Für US-Präsident Biden und auch für Südkorea ist eine vollständige Denuklearisierung Voraussetzung für eine Lockerung der Sanktionen. Doch Kim positionierte sein Land erst Anfang September als Atomwaffenstaat. Über Atomwaffen könne es keinerlei Verhandlungen geben, stellte Kim klar. Das neue Atomwaffengesetz des Landes sieht das Recht auf einen nuklearen Erstschlag zur Selbstverteidigung vor.

Japan setzt auf mehr Verteidigung

Die Zeichen weisen also in Richtung Eskalation. Berichten zufolge begannen die USA, Offensivwaffen zu verlegen – darunter auch F-22-Tarnkappenjets auf den US-Stützpunkt im japanischen Okinawa. Auch auf die japanische Politik wirken sich die Raketentests ebenso wie die chinesischen Drohungen gegenüber Taiwan aus – allerdings nicht im Sinne von Nordkoreas wahrscheinlich beabsichtigter Einschüchterung.

Premier Fumio Kishida will das Verteidigungsbudget deutlich erhöhen. Berichten zufolge überlegt Japan zudem, US-Marschflugkörper vom Typ Tomahawk anzuschaffen. Damit könnte Japan erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg Ziele in China und Nordkorea angreifen.

US-Verteidigungsminister Austin: Abschreckung ausreichend

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sieht Südkorea durch Abschreckung ausreichend geschützt. Zu den effizienten Maßnahmen gehöre, dass die Streitkräfte der USA und Südkoreas gemeinsam agieren könnten, sagte Austin am Donnerstag in Washington auf entsprechende Fragen von Journalisten.

Nach einem Treffen mit Austins südkoreanischem Kollegen Lee Jong-Sup bekräftigte das Pentagon die Warnung aus der jüngst veröffentlichten Militärstrategie, dass ein Einsatz von Atomwaffen gegen Südkorea oder andere Verbündete der USA „das Ende des Regimes“ von Machthaber Kim Jong-un bedeuten würde.