Anrainer mit Taschenlampe in einem unbeleuchteten Gebäude in Kiew
APA/AFP/Sergei Supinsky
Nach Raketen auf Ukraine

Zehn Millionen zeitweise ohne Strom

Nach dem russischen Raketenangriff auf das Energiesystem der Ukraine sind nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj etwa zehn Millionen Menschen zeitweise ohne Strom gewesen. Das betreffe vor allem die Regionen Charkiw, Schytomyr, Kiew und Lwiw, sagte Selenskyj am Dienstag in seiner abendlichen Videoansprache.

In Lwiw und anderen Städten sei die Fernwärme abgeschaltet worden. „Im ganzen Land gibt es Probleme mit der Kommunikation und dem Internet.“ Später ergänzte der Präsident, dass etwa acht Millionen Menschen mittlerweile wieder mit Strom versorgt seien. Infolge der Angriffe auf das Stromnetz seien an zwei ukrainischen Kernkraftwerken Reaktorblöcke automatisch abgeschaltet worden.

Er deutete den schweren Angriff als Russlands Antwort darauf, dass sich auf dem G-20-Gipfel auch Länder wie Indonesien, China und Indien gegen den Krieg ausgesprochen hätten. „Russland sagt der Welt, dass es weitermachen will“, sagte Selenskyj. Darauf müsse die Welt reagieren, forderte er.

Die russischen Raketenangriffe schädigten auch Nachbarländer der Ukraine, sagte der Staatschef. Dabei nannte er Moldawien, wo wegen des Beschusses am Dienstag ebenfalls der Strom ausgefallen war. „Wie oft hat die Ukraine schon gesagt, dass der terroristische Staat sich nicht auf unser Land beschränken wird?“, sagte Selenskyj. „Je länger sich Russland straffrei fühlt, desto größer wird die Bedrohung für alle, die russische Raketen erreichen können.“

Mindestens eine Person getötet

Ukrainischen Militärangaben zufolge war es der bisher größte Angriff auf die Infrastruktur seit Kriegsbeginn vor gut acht Monaten. Man arbeite nun an der Wiederherstellung der Stromversorgung.
Der staatliche Energieversorger Ukrenerho habe zu außerordentlichen Stromabschaltungen übergehen müssen, um das Netz auszubalancieren. Zwar sei es gelungen, etwa 70 der anfliegenden Geschoße abzuschießen, teilte das ukrainische Präsidialamt in Kiew mit. Doch 15 Objekte der Energieversorgung in verschiedenen Landesteilen seien getroffen worden.

Tymoschenko forderte die Bevölkerung zum Stromsparen auf. Wie Kiews Bürgermeister Witali Klitschko kurz nach dem Angriff berichtete, ist in der Hauptstadt mindestens eine Person ums Leben gekommen. Eine Leiche sei aus einem Wohngebäude in dem Bezirk Petschersk geborgen worden.

Auch im Umfeld von Kiew Einschläge

Auch im Umland von Kiew habe es Einschläge gegeben. Im westukrainischen Gebiet Ternopil waren nach Angaben der regionalen Behörden 90 Prozent der Verbraucher ohne Strom. In der Stadt Lwiw waren es 80 Prozent. Deshalb seien auch Heizung und die Versorgung mit warmem Wasser ausgefallen, teilte Bürgermeister Andrij Sadowyj mit.

In Kiew fuhr zeitweise die U-Bahn nicht, dafür stauten sich Autos stundenlang auf den Straßen. Über der Hauptstadt dauerte der Luftalarm am Dienstag knapp vier Stunden. Die staatlichen Eisenbahnen warnten vor Verspätungen von bis zu einer Stunde. Wegen möglicher Stromausfälle seien Dieselloks als Reserve bereitgestellt worden.

Anwohner blicken auf einen Wohnungsbrand nach einem Raketeneinschlag in ein Wohnhaus in Kiew
IMAGO/ZUMA Wire/Aleksandr Gusev
Nach Kiewer Militärangaben umfasste der russische Angriff vom Dienstag etwa 100 Raketen und Marschflugkörper

Selenskyj: Werden überleben

Zwischenzeitlich wurde im gesamten Land Luftalarm ausgerufen. Selenskyj berichtete wenig später von rund 85 russischen Raketen, die hauptsächlich die Infrastruktur der Ukraine zum Ziel gehabt hätten. Der Sprecher der ukrainischen Luftstreitkräfte, Jurij Ihnat, sagte, es seien etwa 100 Raketen abgeschossen worden. „Wir werden überleben“, sagte Selenskyj. Der Feind werde sein Ziel nicht erreichen. Alles werde repariert und die Stromversorgung wiederhergestellt, sicherte der Staatschef zu. Gleichzeitig lobte er die Ukrainer: „Ihr seid Prachtkerle!“

Wohnhäuser in Kiew von Raketen getroffen

Bei einem russischen Raketenangriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew und Umgebung sind offiziellen Angaben zufolge zwei Wohnhäuser beschädigt worden.

USA verurteilen Angriffe

Die erneuten Angriffe am Dienstag seien offenbar eine Reaktion auf die Rede des ukrainischen Präsidenten auf dem G-20-Gipfel, erklärte Präsidentenberater Andrij Jermak. In der Rede hatte Selenskyj die Staats- und Regierungsspitzen der G-20-Länder aufgefordert, Moskau zur Beendigung seines Angriffskrieges zu drängen.

Die USA verurteilten die Angriffe auf die Ukraine scharf. „Die russischen Angriffe werden die Besorgnis der G-20-Staaten über die destabilisierende Wirkung von (Präsident Wladimir, Anm.) Putins Krieg nur noch verstärken“, erklärte der nationale Sicherheitsberater, Jake Sullivan. Die USA stünden der Ukraine so lange zur Seite, wie es nötig sei.

Kreml auch auf Bali unter Druck

Russland gerät sowohl auf dem Schlachtfeld als auch diplomatisch zunehmend unter Druck. Die erzwungene Aufgabe Chersons vergangene Woche wurde als schwere Niederlage für den Kreml gedeutet. Gleichzeitig scheinen sich auch bisherige Unterstützer von Moskau abzuwenden, wie auch der G-20-Gipfel zeigt.

Die Chefverhandlerinnen und -verhandler der meisten Staaten einigten sich Berichten zufolge bereits auf den Entwurf einer Abschlusserklärung, in der Russlands Angriffskrieg in der Ukraine großteils verurteilt werden soll. „Die meisten Mitglieder verurteilten den Krieg in der Ukraine auf das Schärfste und betonten, dass er unermessliches menschliches Leid verursache und bestehende Schwachstellen in der Weltwirtschaft verschärfe“, zitierte die Nachrichtenagentur Reuters aus dem Textentwurf.

„Vollständiger und bedingungsloser Rückzug“ gefordert

Zudem werden laut Reuters ein „vollständiger und bedingungsloser Rückzug aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine“ und der ausdrückliche Verzicht auf einen Atomwaffeneinsatz gefordert. Weiter heißt es: „Es gab andere Ansichten und unterschiedliche Einschätzungen der Situation und der Sanktionen. Wir erkennen an, dass die G-20 nicht das Forum ist, um Sicherheitsfragen zu lösen, aber wir erkennen an, dass Sicherheitsfragen erhebliche Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben können.“