Russische Exilautoren

Scharfe Worte gegen „Putinland“

Sie sind die Stimmen des „anderen Russlands“: Exilschriftsteller Leonid Wolkow möchte mit seinem Sachbuch „Putinland“ alle Fragen, „die der Westen zu Russland hat, beantworten“. Und Bestsellerautor Dmitri Gluchowski verpackt seine Regimekritik in Fiktion. Was beide eint, ist der Glaube an eine russische Zukunft ohne Putin.

Am 24. Februar 2022 beging Putin den größten Fehler seines Lebens. Er verrechnete sich katastrophal, schreibt Wolkow in „Putinland“. Der ursprünglich geplante Blitzangriff des russischen Präsidenten ist nun ein bereits neun Monate andauernder Krieg. Und: Die Ukraine ist weit entfernt davon, von Putins großrussischen Fantasien verschluckt zu werden.

Doch auch Wolkow verrechnete sich. „Es wird keinen Krieg geben“, behauptete der russische Autor noch Ende Februar. Als politischer Direktor von Alexei Nawalnys Antikorruptionsstiftung ist Wolkow ein international gefragter Interviewpartner. Militärische Drohkulissen hätte Putin schon oft eingesetzt, um westliche Staatsoberhäupter an den Entscheidungstisch zu zwingen, schreibt Wolkow nun in seinem Anfang Oktober erschienenen Buch.

Leonid Wolkow
Reuters/Imago/Hannelore Foerster
Nawalny-Vertrauter Leonid Wolkow betreibt derzeit aus dem Exil die digitale Vernetzung russischer Regimekritikerinnen und -kritiker

Als der 24. Februar kam, hatte Wolkow gerade ein Podium in Los Angeles betreten, um über die neuesten Recherchen der Antikorruptionsstiftung zu berichten. Dann brummten die Smartphones vieler im Publikum, mit der Eilmeldung von Putins Verkündigung einer „militärischen Spezialoperation“. „Ich (…) fühlte mich wie der letzte Idiot. Alles, worüber ich sprechen wollte, hatte auf einen Schlag seinen Sinn verloren“, schreibt Wolkow in „Putinland“.

Gefragte Expertise

Als engster Vertrauter Nawalnys kennt er die politische Struktur Russlands eigentlich wie seine Westentasche. Der gelernte IT-Techniker, geboren 1980, leitete unter anderem Nawalnys Kampagnen zur Moskauer Bürgermeister- und Präsidentschaftswahl. Seit 2019 lebt der Dissident im Exil in Vilnius.

Cover vom Buch Putinland
Leonid Wolkow
Leonid Wolkow: Putinland. Droemer, 240 Seiten, 23,50 Euro.

Als Direktor von Nawalnys Antikorruptionsstiftung bezeichnet sich Wolkow als „Außenminister der russischen Opposition“. Diese Rolle nimmt er seit Februar verstärkt ein. Der Westen richtet zunehmend seinen Blick auf russische Dissidentinnen und Dissidenten. Dazu gehört auch Dmitri Gluchowski. Im Unterschied zu Wolkow verpackt der international erfolgreiche Autor seine Regimekritik in dystopische Fiktion – doch dazu später mehr.

Analyse von Putins Aufstieg

Putins Überfall auf die Ukraine hat das Sicherheitsgefühl vieler Europäerinnen und Europäer gehörig ins Wanken gebracht. Russlands Intelligenzija im Exil wird meist eine Frage gestellt: Gibt es Grund zur Hoffnung, dass dieser Krieg bald endet? Wolkow weiß: Diese Frage kann nur eingebettet in Russlands komplizierte Geschichte beantwortet werden. Seine anfängliche Fehleinschätzung bewog ihn dazu, Putins Aufstieg zum Präsidenten grundlegend zu analysieren.

„Putinland“ setzt in den Neunzigerjahren an, als Russland wie viele ehemalige Sowjetländer mit der neu gewonnenen Unabhängigkeit nicht nur wirtschaftlich strauchelte. Eine national traumatische Erfahrung, die Putin bis heute ausnutzt: Demokratische Werte des Westens seien laut ihm schlecht für Russland. Heute hätte Putin jeden Bezug zur Realität verloren, was seinen „irrationalen“ Überfall auf die Ukraine erklärt, schreibt Wolkow.

Sachbuch als Thriller

Mit dem Untertitel „Der imperiale Wahn, die russische Opposition und die Verblendung des Westens“ ist der Ton von Wolkows Buch gesetzt. Spätestens zu Putins zweiter Amtsperiode wurde klar, dass er Russland mit seiner antiwestlichen und antieuropäischen Haltung wahnhaft in eine imperialistische Diktatur verwandeln möchte.

„Putinland“ liest sich wie ein Thriller. Etwa, wenn Wolkow schildert, wie Putin schrittweise den russischen Föderalismus beseitigt und demokratische Institutionen demontiert. Den Spannungshöhepunkt findet Wolkows Buch dann, wenn er den Giftanschlag auf Nawalny 2020 minutiös beschreibt. Den Anschlag kommentiert Wolkow trotzig: „Putin ist nicht allmächtig. (…) er hat befohlen, ihn zu töten (…) aber es ist ihm nicht gelungen.“ Putin sei zudem nicht intelligent; ein „kleines Licht“. Und ohne ihn, so Wolkow, wird Russland eine funktionierende Demokratie werden.

Dmitri Gluchowski
IMAGO/Hannelore Förster
Dmitri Gluchowski wurde für die „Metro“-Triologie weltweit gefeiert

Zur Fahndung ausgeschrieben

Weniger optimistisch zeigt sich Gluchowski. Seit Juni ist der international erfolgreiche Autor in Russland zur Fahndung ausgeschrieben, ihm drohen fünfzehn Jahre Haft. Der Grund: Er hätte die russische Armee und damit Putin diffamiert – in einem „kritischen“ Instagram-Posting, in denen Gluchowski Russlands Überfall auf die Ukraine als das bezeichnet, was es ist: als Krieg.

Seit Oktober gilt der Science-Fiction-Autor als „ausländischer Agent“, eine Praxis in Russland, die – ähnlich jener zu Sowjetzeiten, als Dissidenten „Volksfeinde“ waren – russischen Oppositionellen unterstellt, für ihre Systemkritik aus dem Ausland unterstützt zu werden. Schon zuvor floh Gluchowski ins europäische Exil. Wohin genau, möchte er nicht sagen.

In seiner gefeierten „Metro“-Romantrilogie (2007–2015) zeichnete er ein dystopisches Bild Russlands. Die russische Gesellschaft hat sich darin in das Moskauer U-Bahn-Netz zurückgezogen, während Mutanten die „Oberwelt“ bevölkern. Ebenso düster und absurd sind seine kürzlich auf Deutsch erschienenen „Geschichten aus der Heimat“. In dem Erzählband betrachtet er die russische Vergangenheit und Gegenwart und beweist mit seinen zwanzig tragikomischen Kurzgeschichten, dass er nicht nur ein Meister der literarischen Langform ist.

Erdbohrungen bis zum Höllentor

Da ist etwa „From Hell“, die von der Expedition eines russischen Geologen in Sibirien handelt, der mit seinem Forscherteam durch Erdbohrungen auf nichts Geringeres als das Tor zur Hölle stößt. Wegen seiner Entdeckung wird der Protagonist vom Unternehmen Gasprom kontaktiert, das Erdgaslieferungen aus der Unterwelt erhält.

Cover vom Buch „Geschichten aus der Heimat“
Leonid Wolkow
Dmitri Gluchowski: Geschichten aus der Heimat. Heyne, 448 Seiten, 25,50 Euro.

In „Telefonrecht“ richtet Gluchowski den Blick in Russlands Zukunft, in der humanoide Roboter Richterinnen ersetzen, die von oben angeordnete Gerichtsurteile bloß verkünden. Einer dieser Roboter entwickelt Gefühle – ein Albtraum für das unmenschliche russische Justizsystem. In seinen oft szenischen Erzählungen beschreibt Gluchowski, wie sich Putins Diktatur auf die Schicksale einfacher Menschen auswirkt und wie sie oft – gewollt oder ungewollt – kleine Zahnräder im russischen Schreckensregime sind.

Trost aus der Diaspora

So wie Wolkow war auch Gluchowski mit seinen „Geschichten aus der Heimat“ auf der heurigen Frankfurter Buchmesse eingeladen. Im Gespräch zeigte sich, dass die beiden unterschiedliche Vorstellungen von der nahen Zukunft Russlands haben. „Nach Putin wird es keinen automatischen Wandel zur Demokratie geben, sondern einen Kampf zwischen den Leuten aus seinem Umfeld. Es wird eine Schlacht um Macht und Geld“, sagte Gluchowski gegenüber ORF.at.

Ein Ende des Krieges sieht er nicht nahen. „Solange Putin an der Macht ist, dauert er an. Ich glaube nicht, dass ich in den nächsten 15 Jahren nach Hause komme.“ Gluchowskis Hoffnung gilt nicht den in Russland Verbliebenen. „Diese Leute haben keine politische Position, sie schweigen und leben ihr Leben weiter“, so der Autor. Vielmehr hätte der Exodus an Putin-Gegnerinnen und -Gegnern etwas Tröstendes: „In der Diaspora können Russen frei denken und leben. Sie werden zurückkehren und Russland erneuern.“

Aufbegehren von unten

Wolkow ist anderer Meinung. Putin habe es zwar unmöglich gemacht, zu protestieren. „Das heißt nicht, dass der Protest weg ist. Die kritische Meinung wächst, und Putins Umfragewerte werden schlechter“, so Wolkow im ORF-Videointerview.

Dass Nawalny bei den Wahlen zum Moskauer Bürgermeister erstaunlich großen Zuspruch erhalten hatte, ist für Wolkow ein Zeichen, dass der politische Aktivismus der Zivilbevölkerung vor zehn Jahren an Fahrt aufgenommen hat. „Wir wussten damals schon, dass es oppositionell denkende Bürger (…) gab, aber keine politische Kraft, mit der sie sich identifizieren konnten. Wir beschlossen, dass wir diese Kraft sein wollten“, schreibt Wolkow in „Putinland“. Er hält mehrere Zukunftsszenarien für möglich. Ein Volksprotest, ein „Aufbegehren von unten“, ist eines davon.

In einem Punkt ist sich Wolkow sicher: Putins Zeit läuft ab, und Russlands Zukunft ist eine europäische. Diesen Optimismus brauchen nicht nur russische Dissidenten im Exil und die gesamte Zivilbevölkerung Russlands. Sondern – angesichts des Krieges in der Ukraine – auch ganz Europa.