Eine Familie feiert Thanksgiving
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Truthahn ade?

Krisenmelange am Thanksgiving-Tisch

Es ist das US-amerikanische Fest schlechthin, die gesamte Familie um einen goldbraun gebratenen Truthahn vereint – doch heuer stehen die Zeichen schlecht für Thanksgiving: Die gestiegenen Lebensmittelpreise machen das traditionelle Essen teurer. Truthähne sind aufgrund eines Virus Mangelware – und noch dazu viel kleiner als sonst. Auch die kontroversen politischen Debatten machen Familientreffen nicht einfacher. Ist es also Zeit, mit Traditionen zu brechen, fragen US-Medien.

Diese Frage stellen dieser Tage etliche US-Medien von der „New York Times“ abwärts – und bieten gleichzeitig zahlreiche Alternativen zum großen Truthahnessen an. Zeitungen, Zeitschriften, Websites und TV—Sender überbieten einander derzeit mit Ideen und Rezepten, von anderen essbaren Vögeln wie Ente über alternative Fleischgerichte bis zu vegetarischen und veganen Mahlzeiten.

Denn der Truthahn ist zur Mangelware geworden: Im Februar kam es zu den ersten Ausbrüchen der Vogelgrippe in den USA. Mittlerweile gab es Fälle in fast allen Bundesstaaten, die Welle gilt als bisher größter Ausbruch in dem Land. 50 Millionen Tiere sind bis dato allein heuer verendet oder gekeult worden, darunter acht Millionen Truthähne, so die US-Behörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC).

US-Präsident Joe Biden
Reuters/Evelyn Hockstein
Traditionellerweise begnadigt der US-Präsident vor Thanksgiving zwei Truthähne. Joe Biden entschied sich für Chocolate und Chip aus North Carolina.

Schwergewichte sind Mangelware

Das hat den Preis in die Höhe getrieben. Es gibt zwar regionale Unterschiede, doch durchschnittlich sei pro Kilo fast 70 Prozent mehr zu zahlen als noch im Vorjahr. Zudem haben viele Züchter frühzeitig ihre Tiere geschlachtet und auf Eis gelegt, um einem Ausbruch der Vogelgrippe zuvorzukommen.

Diesen Tieren fehlt logischerweise das Gewicht: 16 Pfund, also etwas mehr als sieben Kilo, hat der durchschnittliche Thanksgiving-Truthahn, bevor er ins Backrohr kommt. Heuer erreichen viele Tiere im Verkauf dieses Gewicht bei Weitem nicht. Truthähne mit einem Gewicht von 18 bis 20 Pfund (8,2 bis 9,1 kg), genug, um mehr als zwei Dutzend Menschen zu sättigen, sind überhaupt Mangelware. Auch die Preise für andere Lebensmittel sind um bis 20 Prozent gestiegen, berichteten US-Medien.

Hohe Erwartungen, kulinarische Traumata

Fallstricke lauern bei der Zubereitung: Allein das große Tier in den Ofen zu bugsieren stellt viele vor erhebliche Schwierigkeiten. Bei einem Gericht, das in den meisten Fällen genau einmal im Jahr zubereitet wird, fehlt oft die notwendige Routine.

Ein gelungenes Truthahnessen im trauten Kreis der Familie ist das US-Ideal – und genau deswegen sind die Erwartungen hoch, und oft liegen die Nerven blank. Trockenes Fleisch oder ein verkohlter Vogel gelten als familiäre Traumata schlechthin. Eine eigens eingerichtete Truthahnhotline verzeichnet jedes Jahr Zehntausende Anrufer.

Andere Zubereitungsmethoden wiederum beschäftigen vor allem die Feuerwehr: So erfreut sich die frittierte Variante immer größerer Beliebtheit. Dabei wird das Tier in auf offenem Feuer erhitztes Fett in einem großen Topf gehievt – idealerweise im Freien und in einem aufgetauten Zustand, denn sonst ist das Ergebnis kein knuspriger Truthahn, sondern ein gigantischer Feuerball, wie zahlreiche Amateur- und Feuerwehrwarnvideos demonstrieren.

Laut Brandschutzorganisation NFPA werden jedes Thanksgiving rund 60 Menschen beim Frittieren eines Truthahns verletzt, durchschnittlich sind pro Jahr zudem fünf Todesopfer zu beklagen.

Konfliktbewältigung in der Familie

Doch nicht nur kulinarische Fallen stellen zu Thanksgiving das Nervenkostüm auf die Probe, wenn man den zahlreichen Artikeln in US-Medien traut, die Tipps zu Konfliktvermeidung und Streitschlichtung am Esstisch geben: Für das große Familientreffen reisen viele Hunderte Kilometer weit, um etwa Eltern und andere Verwandte wiederzusehen – mit denen aber oft nur noch wenig weltanschauliche Gemeinsamkeit besteht.

Die politische Polarisierung hat in den USA in den vergangenen Jahren rasant zugenommen, auch die Coronavirus-Pandemie und ihr Umgang damit sorgen weiterhin für Konfliktstoff, da gerät die heile Familienwelt schnell einmal aus den Fugen.

Gründungsmythos mit Truthahn

Thanksgiving-Traditionalisten beharren freilich auf dem Familienfest mit Truthahn. Sie verweisen auf das erste Thanksgiving im Herbst 1621, das die englischen Pilgerväter, die mit der „Mayflower“ ankamen, in Amerika, genauer gesagt in Plymouth Colony im heutigen Massachusetts, feierten. Der Schönheitsfehler der Geschichte: Niemand weiß genau, ob damals tatsächlich Truthahn gegessen wurde – und das Erntedankfest selbst wurde in den folgenden Jahren nicht wiederholt.

Erst viele Jahrzehnte später wurden Erntedankfeste im Herbst quer über den Kontinent gefeiert – einmal mit, einmal ohne Truthahn. Der hatte den Vorteil, dass er überall verfügbar war, recht schnell eine stattliche Menge Fleisch bot und nach der Schlachtung – anders als beim Huhn – niemand seine Eier vermisste.

Sarah Josepha Hale
Public Domain
Sarah Josepha Hale, die „Mutter“ von Thanksgiving

Resultat erfolgreicher Lobbyarbeit

Als Erfinderin von Thanksgiving in seiner heutigen Form gilt Sarah Josepha Hale, die – heute würde man sagen: als Lobbyistin – den nationalen Feiertag forderte. Die Schriftstellerin war Herausgeberin von „Godey’s Lady’s Book“, der bedeutendsten US-Frauenzeitschrift des 19. Jahrhunderts. Angesichts der Feindseligkeiten und des sich abzeichnenden Bürgerkrieges zwischen Nord- und Südstaaten wollte sie mit einem Feiertag etwas Verbindendes für die ganzen USA schaffen.

Sie startete eine Briefkampagne an Regierungspolitiker und veröffentlichte in ihrer Zeitschrift Geschichten über Thanksgiving-Mahlzeiten, bei denen Truthähne nie fehlen durften. Im Oktober 1863 proklamierte schließlich Präsident Abraham Lincoln Thanksgiving als offiziellen Feiertag – mit dem Truthahn als festem Bestandteil und Symbol dafür.