Studenten protestieren in Peking vor der Tsinghua-Universität gegen die Null-Covid-Politik der Regierung
APA/AFP/AFPTV
Proteste in China

Tian’anmen-Szenario „unwahrscheinlich“

Es sind die größten Proteste in China seit der blutigen Niederschlagung der Tian’anmen-Proteste 1989: In vielen Großstädten des Landes wird gegen die strikte Null-Covid-Politik demonstriert. Auch explizite Rufe nach einem Rücktritt von Parteichef Xi Jinping sind zu hören – nach Ansicht des China-Experten Christoph Steinhardt ist das ein Novum. Ein Szenario a la Tian’anmen hält er dennoch für unwahrscheinlich – aus verschiedenen Gründen.

Obwohl von rigider Kontrolle und Zensur geprägt, wird auch in China immer wieder demonstriert, die Proteste bezögen sich aber zumeist auf konkrete Lebensbedingungen, auch kleinere explizit politische Proteste von Aktivistinnen und Aktivisten seien bekannt, erläuterte Steinhardt vom Institut für Ostasienwissenschaften an der Universität Wien gegenüber ORF.at.

Auf Videos von Protesten am Wochenende, die sich trotz staatlicher Zensur im Internet verbreiteten, waren aber auch Rufe wie „Nieder mit der Kommunistischen Partei! Nieder mit Xi Jinping!“ zu hören, was aufgrund des harten Vorgehens der Polizei gegen Regierungskritikerinnen und -kritiker und Opposition für chinesische Verhältnisse äußerst ungewöhnlich ist.

„Was in diesen Ereignissen neu ist, ist die Kombination von überregionalen Protesten mit zumindest vereinzelten expliziten politischen Forderungen. Rufe nach dem Rücktritt des Parteichefs sind wirklich ein Novum“, so Steinhardt. Wie weit politische Forderungen unter Protestierenden verbreitet sind, lasse sich allerdings nicht seriös einschätzen, seiner Einschätzung nach aber „noch nicht sehr verbreitet“.

Demonstranten und Polizisten stoßen in Schanghai aufeinander
Reuters/Video Obtained By Reuters
Auf Bildern und Videos in sozialen Netzwerken ist eine sehr starke Polizeipräsenz zu sehen

Regierung von Unmut überrascht?

Allerdings habe sich nach dem nationalen Parteitag der Kommunistischen Partei im Oktober zumindest anekdotisch beobachten lassen, dass sich auch normalerweise unpolitische Chinesinnen und Chinesen kritisch über die Konzentration der Macht geäußert hätten.

Überraschend ist laut Steinhardt, dass die Führung dennoch eine derart unpopuläre Politik so lange weiter getrieben habe. „Die Kommunistische Partei Chinas (KPC) beobachtet die öffentliche Meinung genau und muss den wachsenden Unmut bemerkt haben“, es wäre eigentlich zu erwarten gewesen, dass die Regierung schon viel früher reagiert und nachjustiert hätte – „möglicherweise sehen wir hier die erodierende Wirkung von Machtzentralisierung auf die Flexibilität der Regierungsführung.“

Josef Dollinger (ORF) zu Protesten in China

Josef Dollinger (ORF) meldet sich aus Peking und spricht über die Proteste in China. Staatschef Xi Jinping beharrt auf der Null-CoV-Politik. In der Nacht auf Montag gingen Hunderte Menschen in mehreren Städten des Landes auf die Straßen. Es ist die größte Protestwelle seit Jahrzehnten in China.

Offiziell leugnet die Regierung die Proteste und will nichts von Unzufriedenheit über ihre Null-Covid-Maßnahmen wissen. „Was sie ansprechen, spiegelt nicht wider, was in Wirklichkeit passiert ist“, sagte Außenamtssprecher Zhao Lijian in Peking auf eine Journalistenfrage nach den Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmenden in mehreren Metropolen. Gleichzeitig berichten Augenzeugen und Medien von erhöhter Polizeipräsenz und verstärkten Kontrollen in Peking, Schanghai und verschiedenen anderen Millionenstädten – auch Handys von Passantinnen und Passanten würden durchsucht.

Polizei routiniert im Umgang mit Protesten

Die zunehmenden Befürchtungen, dass die Regierung die Proteste gewaltsam niederschlagen könnte – also ein Szenario wie 1989 auf dem Tian’anmen-Platz – teilt Steinhardt nicht. Im Gegensatz zu den 1990er-Jahren habe die Regierung Zugriff auf eine Polizei, die in der Kontrolle von Protesten und präventiven Maßnahmen routiniert sei. Dazu gebe es in jeder Provinz die bewaffnete Volkspolizei, deren Hauptaufgabe Protestkontrolle sei, die Armee werde dazu nicht gebraucht – „ein Tian’anmen-Szenario halte ich für extrem unwahrscheinlich“, so Steinhardt.

Das Tian’anmen-Massaker

Im Frühjahr 1989 versammelten sich auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tian’anmen-Platz) in Peking über Wochen hinweg Demonstrierende und forderten politische Reformen. In der Nacht zum 4. Juni 1989 rollten Panzer an, und Soldaten eröffneten das Feuer. Hunderte Menschen starben.

Er gehe, im Gegenteil, sogar davon aus, dass die Sicherheitskräfte diese Proteste schnell unter Kontrolle bekommen würden, für derartige Szenarien sei die Führung vorbereitet, entsprechende Pläne existierten und seien auf allen Ebenen aktiviert. „Zentrale AktivistInnen werden identifiziert, präventiv verhaftet und/oder mit weitreichenden Konsequenzen bedroht“, erläutert Steinhardt.

„An neuralgischen Punkten der Städte wird präventiv Polizei eingesetzt und weitere Ansammlungen werden unterbunden oder aufgelöst. Falls sich die Unruhe nicht schnell unterbinden lässt, werden die zentralen Staatsmedien Aufrührer und ausländische Kräfte verantwortlich machen, was unter lokalen Entscheidern und politisch aufmerksamen Bürgern als Signal für harte Repression verstanden wird.“

Druck auf Einparteienstaat

Unmittelbar manifeste Konsequenzen für Xi erwartet der Experte nicht. „Trotzdem sind diese Ereignisse kein Erfolg für ihn. Die Idee, dass es im System ein Problem gibt, wird gerade unter jüngeren Leuten nicht so schnell verschwinden.“ Zusammen mit der schlechter laufenden Wirtschaft bestehe die Aussicht, dass sich der interne Druck auf den Einparteienstaat erhöhen werde.

Für die kommenden Monate erwarte er, dass aus epidemiologischer Sicht nur eine Mischung aus harter Repression und kosmetischen Zugeständnissen möglich sei – „allerdings ist es natürlich auch möglich, dass das Virus doch außer Kontrolle gerät und dann andere Szenarien eintreten. Wie man es auch wendet, ich erwarte, dass dieser Winter für China sehr anstrengend wird.“

Abkehr von Null-Covid-Strategie „gefährlich“

Eine radikale Abkehr von der derzeitigen Strategie mit einem sofortigen Ende aller Maßnahmen wäre „kontraproduktiv und gefährlich“, so Timo Ulrichs, Experte für Globale Gesundheit an der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin. „Das Virus träfe auf eine Bevölkerung, die fast keinen Immunschutz dagegen hat.“ Die Folge wäre eine erhebliche Durchseuchung, ein überlastetes Gesundheitssystem und viele Kranke und Tote.

Aber auch ein „weiter so“ ist für Ulrichs keine gute Option. „Dadurch schiebt die Regierung das Problem nur vor sich her.“ Das Land würde auf unbestimmte Zeit in der aktuellen Situation verharren. „Das macht sicher auch die Bevölkerung nicht mehr lange mit.“ Die Menschen bräuchten eine Perspektive, wie China aus der aktuellen Situation herauskommt.

Zwar habe das Land mit seiner Null-Covid-Strategie Zeit gewonnen. Allerdings sei diese nicht genutzt worden, um die Bevölkerung bestmöglich zu impfen und eine vorsichtige Öffnung zuzulassen. Spätestens als klar geworden sei, dass die chinesischen Vakzine nicht so gut wirken, hätte man die Strategie ändern müssen.

„China müsste da über seinen Schatten springen“

„Zunächst müsste die Führung unabhängig von Ideologie die Bevölkerung mit den besten derzeit verfügbaren Impfstoffen versorgen“, so Ulrichs. Das seien aber offensichtlich nicht chinesische Vakzine, sondern angepasste mRNA-Impfstoffe aus westlichen Ländern. „China müsste da über seinen Schatten springen.“

Nach einer breiten Impfkampagne, die zunächst vor allem Risikogruppen adressieren müsste, könnten dann die strengen Maßnahmen vorsichtig nach und nach gelockert werden. Das Gesundheitssystem dürfe dabei nicht überlastet werden, so Ulrichs. Diese Strategie brauche aber viele Monate Zeit, ähnlich wie zu Beginn der Impfkampagnen in Europa.

Tatsächlich kündigte die chinesische Gesundheitskommission am Dienstag an, die Impfkampagne vor allem bei älteren Menschen nun vorantreiben zu wollen. Laut offiziellen Angaben sind nur rund 40 Prozent der Menschen im Alter über 80 Jahren dreifach geimpft.