Ein Polizist entfernt Kleber von der Hand eines Klimaaktivisten der Gruppe „Letzte Generation“
Reuters/Fabrizio Bensch
Protest im Wandel

Vom Schulschwänzen zum Straßenblockieren

Statt durch Straßen zu marschieren, kleben sich Klimaktivistinnen und Klimaaktivisten nun an Straßen fest, statt Schilder zu malen, überschütten sie Glasrahmen weltberühmter Gemälde mit Farbe. Was mit „Freitage für die Zukunft“ begann, wurde teils zu einer „Rebellion gegen das Aussterben“. Das Ziel ist aber gleich geblieben: im Kampf gegen die Klimakrise endlich ins Handeln zu kommen. Doch heiligt der Zweck alle Mittel? ORF.at hat nachgefragt.

Für besonders großes Aufsehen – und Kritik – sorgte vergangene Woche die Aktion der Aktivisten und Aktivistinnen der „Letzten Generation“, die für einige Stunden den Berliner Flughafen lahmlegten. In vielen Medien war schnell von „Klimachaoten“ und „Ökoterror“ die Rede, Teile der Politik sprachen von „Klimakriminellen“, derer sich der Verfassungsschutz annehmen müsse.

Neben Berlin kam es in den vergangenen Monaten auch in vielen anderen europäischen Städten zu Aktionen zivilen Ungehorsams, Paris, London und Madrid sind nur einige davon. Hierzulande finden Proteste in Wien, Salzburg, Linz, Graz und Innsbruck statt, wo Aktivisten und Aktivistinnen dieser Tage Hörsäle besetzen und Straßen blockierten.

Eine Kliamaktivistin auf dem Flugfeld des Flughafens Berlin
Reuters/Letzte Generation
Wie das Weltklima erhitzt sich auch die Debatte über radikalere Protestformen zunehmend

Drastische Krise, drastischer Protest

Die Forderungen der Klimabewegungen reichen dabei ganz allgemein von der Anerkennung des 1,5-Grad-Ziels über einen Ausstieg aus Öl und Gas bis hin zu lokalen Appellen wie Tempo 100 auf den Autobahnen. Mit drastischen Aktionen will man die öffentliche Aufmerksamkeit auf die ebenso drastischen Folgen der Klimakrise lenken – und auf die Dringlichkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Auf Gewalt verzichte man jedoch.

Statt Klimawandel brauche es einen Systemwandel, so der Tenor. Auf der Website der „Letzten Generation“ heißt es: „Wir sind die erste Generation, die den beginnenden Klimakollaps spürt – und die letzte, die ihn noch aufhalten kann.“ Gegenüber ORF.at sagen die Aktivistinnen und Aktivisten: „Wir wollen, dass unsere Regierung das Ausmaß der Klimakrise anerkennt und dementsprechend handelt und kommuniziert.“

Auch von „Exctinction Rebellion“ ist das Ziel, „die Regierungen der Welt mittels gewaltfreiem, zivilem Widerstand zu entschiedenen Handlungen im Klimanotstand und konkreten Maßnahmen in Anbetracht der ökologischen Katastrophe zu bewegen“.

Proteste für Expertin „begründet und berechtigt“

Die Klima- und Transformationsforscherin Ilona Otto vom Wegener Center für Klima und Globalen Wandel (Universität Graz) beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der Klimakrise. Gegenüber ORF.at meint auch sie: „Um das Netto-Null-Emissionen-Ziel zu erreichen, brauchen wir tiefe gesellschaftliche Änderungen.“ Für sie sind die Proteste daher „begründet und berechtigt“. Schließlich würden die Folgen der Klimakrise von Jahr zu Jahr zunehmen, und derzeit befände sich die Menschheit noch am Anfang.

Was die Kritik an den Protestformen betrifft, sagt sie: „Ich verstehe den Ärger von Autofahrerinnen und Autofahrern, die im Stau stecken, und den Ärger von anderen Bürgerinnen und Bürgern, die sich von den Protesten gestört fühlen. Allerdings könnten die Straßen auch durch klimatische Extremereignisse wie Überschwemmungen oder Waldbrände blockiert werden, was jedes Jahr geschieht und in Zukunft noch häufiger vorkommen wird.“

Klimaaktivistin der Gruppe „Letzte Generation“ hat sich am Asphalt die Hand angeklebt
Reuters/Christian Mang
Die Hand klebt an Gegenständen oder eben am Boden: Das ist die neue Strategie der Klimaaktivistinnen und -aktivisten

„Unsere Existenz steht auf dem Spiel“

Anstelle sich über die Aktivitäten zu ärgern, sollte man Otto zufolge vielmehr über die Gründe für die Klimaaktionen nachdenken und sich am Diskurs beteiligen. „An unseren Arbeitsplätzen, in unseren Peer-Groups (sozialen Bezugsgruppen, Anm.), Familien und in unserer Nachbarschaft.“ Überall sollte man darüber diskutieren, was getan werden könne, um die Emissionen und den Verbrauch fossiler Brennstoffe zu senken.

„Und schließlich sollten wir von unseren politischen Vertretern und Vertreterinnen Maßnahmen fordern, die uns bei diesem Übergang unterstützen.“ Denn nichts Geringeres als „unsere Existenz“ steht auf dem Spiel, so Otto.

„Zwangsweise“ Radikalisierung

Doch die politischen Entscheidungsträger hätten derzeit andere Prioritäten. Das führe laut Otto eben auch dazu, dass junge Demonstrierende sich machtlos fühlen und keine anderen als radikale Mittel sehen würden, um Druck auszuüben.

„Obwohl die friedliche ‚Fridays for Future‘-Bewegung immer noch sehr wichtig ist, beobachten wir, dass einige Aktivistinnen und Aktivisten radikalere Aktionen durchführen, die für die Gesellschaft, Politik und Ökonomie unbequem sind“, so Otto. Und weiter: „Natürlich wäre es besser, wenn die Klimapolitik weiter wäre und die jungen Menschen, die sich an den Protesten beteiligen, sich entspannen könnten.“ Doch das sei nun einmal nicht der Fall.

„Es ist uns bewusst, dass wir damit Menschen ärgern“

Das bestätigt auch die „Letzte Generation“. Auf die Frage von ORF.at, ob es diese Radikalisierung brauche, heißt es: „Ja. Leider haben moderatere Proteste nicht die nötige Entschlossenheit bei der Bewahrung unserer Lebensgrundlage bewirkt.“ Und weiter: „Es ist uns bewusst, dass wir damit Menschen ärgern und stören, die selbst wenig Möglichkeiten haben, zur Abwendung der Klimakatastrophe beizutragen.“

Doch die angemeldeten Demonstrationen, Petitionen und Volksbegehren der vergangenen Jahre hätten nicht ausgereicht, um auf die Dringlichkeit der Klimakrise aufmerksam zu machen. „Deswegen sehen wir uns zu zivilem Ungehorsam gezwungen.“ Die Hoffnung, die nötige Transformation noch zu schaffen, bestehe aber durchaus.

Klimaaktivistinnen und -aktivisten bei einer „Friday for Future“-Demonstration
Reuters/Christian Mang
„Fridays for Future“-Aktivistinnen und Aktivisten mit selbst gebastelten Plakaten

Verweis auf historische Beispiele

Eine „Reihe historischer Beispiele“ würden laut Otto eben zeigen, dass ziviler Ungehorsam durch soziale Gruppen die Gesellschaft und die Politik sehr wohl erfolgreich verändern könnten, so die Klimaforscherin, die hierbei etwa auf die Frauenrechtsbewegung verweist.

Gegenüber dem deutschen Science Media Center (SMC) betonen in einer Aussendung eine Reihe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Verhältnismäßigkeit. Auch in der Vergangenheit seien die Fragen der Verhältnismäßigkeit und der Zweckdienlichkeit wichtige Indikatoren für den Erfolg von Protestbewegungen gewesen – etwa bei der Anti-Atomkraft-Bewegung. Inwiefern diese bei radikalem Klimaaktivismus zutreffen, wird in der Öffentlichkeit aber wohl noch länger ein Streitthema bleiben.