Polizisten vor einem Wahllokal in Tunesien
APA/AFP/Fethi Belaid
Tunesien

Wahlfarce auf dem Weg zur Autokratie

In Tunesien ist am Samstag die Wahl für ein neues Parlament über die Bühne gegangen. Mehr als 9,2 Millionen Wählerinnen und Wähler waren zur Abstimmung aufgerufen. Doch seit der Einführung einer umstrittenen neuen Verfassung im Sommer ist das Parlament ohnehin fast nur politische Staffage: Präsident Kais Saied hat im Wesentlichen alle Befugnisse. Und die Wahl scheint nur der nächste Schritt in Richtung autokratischer Herrschaft zu sein. Entsprechend niedrig fiel die Wahlbeteiligung aus.

Nicht einmal jede und jeder zehnte Wahlberechtigte gaben ihre Stimmen ab. Die Wahlbeteiligung sei bei 8,8 Prozent gelegen, teilte die Wahlkommission nach Schließung der Wahllokale am Samstag mit. Nach vorläufigen Ergebnissen machten nur rund 803.000 Tunesierinnen und Tunesier von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Die in der Rettungsfront vereinte Opposition rief Saied zum Amtsverzicht auf. „Was heute passiert ist, gleicht einem Erdbeben“, sagte der Chef der Rettungsfront, Nejib Chebbi. „Von diesem Moment an halten wir Saied für einen illegitimen Präsidenten und fordern seinen Rücktritt nach diesem Fiasko.“

Die Parlamentswahl fand ausgerechnet am zwölften Jahrestag der Selbstverbrennung von Mohammed Bouazizi statt. Der tunesische Gemüsehändler war angesichts seiner prekären Lebenslage verzweifelt. Sein Tod löste Massenproteste und politische Umwälzungen in mehreren arabischen Ländern aus. Tunesien gelang danach im „Arabischen Frühling“ als einzigem Land der Übergang zur Demokratie. Der langjährigen Staatschef Zine el-Abidine Ben Ali wurde im Jänner 2011 entmachtet.

Saied hat nun das Rad der Zeit wieder zurückgedreht: Er war Ende 2019 gewählt worden. Im Jahr 2021 entmachtete er unter Berufung auf Notstandsgesetze die Regierung und das Parlament. Er trieb zudem die Verfassungsänderung voran, die ihm deutlich mehr Macht verlieh. Er kann auch ohne Zustimmung des Parlaments die Regierung, den Ministerpräsidenten sowie Richter ernennen und entlassen.

Parlamentswahl in Tunesien

Umstrittene Parlamentswahl am Samstag in Tunesien: Die Opposition hat dazu aufgerufen, die Abstimmung zu boykottieren. Im Mittelpunkt der Kritik steht Tunesiens Präsident Kais Saied: Ihm wird vorgeworfen, die Macht der künftigen Volksvertretung beschnitten zu haben, um dadurch so gut wie ohne Kontrolle regieren zu können.

Entmachtetes Parlament

Seit Mitte 2021 regiert er per Dekret, das entmachtete Parlament gleicht einem zahnlosen Tiger. Das neue Parlament kann infolge der Verfassungsreform den Präsidenten nicht mehr absetzen, ein Misstrauensvotum gegen die Regierung ist praktisch unmöglich geworden. Saied setzte zudem ein neues Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen durch, das die Rolle der politischen Parteien einschränkt. Sein Vorgehen rechtfertigt der umstrittene Präsident mit der Notwendigkeit, einen politischen und wirtschaftlichen Stillstand zu überwinden.

Tunesischer Präsident Kais Saied während der Stimmabgabe
Reuters/Tunisian Presidency
Präsident Saied bei der Stimmabgabe

Nach seiner Stimmabgabe in der Hauptstadt Tunis rief Staatschef Saied seine Landsleute zur Wahl auf. Der Urnengang sei für die Bürger eine „historische Gelegenheit, ihre legitimen Rechte wiederzuerlangen“. Tunesien habe „mit denen gebrochen, die das Land ruiniert haben“.

Boykott der Opposition

Die Parlamentswahl sei „eine Formalität“, um das von Saied angestrebte politische System zu vollenden und „die Macht in seinen Händen zu konzentrieren“, sagte der Politikwissenschaftler Hamza Meddeb der Nachrichtenagentur AFP. Die Tunesier wüssten, dass das Parlament „ohne jegliche Macht sein wird“. Der Urnengang sei „ein Nichtereignis“.

Die Wahl wurde von den meisten Parteien boykottiert, darunter der islamistisch geprägten Ennahdha, die das tunesische Parlament zehn Jahre lang dominiert hatte und als mit Saied verfeindet gilt. Auch der mächtige Gewerkschaftsbund UGTT erklärte die Wahl für überflüssig. Die Opposition wirft dem Präsidenten vor, die Demokratie zu untergraben. Seit Monaten protestieren Anhänger und Gegner Saieds in dem nordafrikanischen Land.

Der Wahlkampf verlief nur äußerst gedämpft, ohne echte Debatten und mit nur wenigen Wahlplakaten auf den Straßen. Das neue Parlament wird aus insgesamt 161 Abgeordneten bestehen. Bei der Wahl zur Vergabe der 161 Parlamentssitze treten meist unbekannte Kandidaten an. In einigen wenigen Wahlkreisen gibt es nicht einmal Kandidaten, sodass das Gremium bis auf Weiteres nicht vollständig besetzt sein wird.

Unmut über wirtschaftliche Lage wächst

Dabei brodelt es im Land: Der Unmut in der Bevölkerung wegen der wirtschaftlichen Schieflage des Landes ist groß. Im Zuge der CoV-Pandemie ist die Wirtschaft um 8,5 Prozent geschrumpft. Die Folgen spüren die Menschen tagtäglich: Die Regale in den Supermärkten sind leer, während sich die Regierung um eine internationale Rettungsaktion bemüht. Ende September kam es bereits zu Protesten gegen starke Preissteigerungen und die Verknappung von Lebensmitteln.

Viele Tunesier kämpfen Tag für Tag darum, über die Runden zu kommen. Die Politik hat ihnen bisher keine Lösungen für die Wirtschaftskrise und die hohe Arbeitslosigkeit im Land geboten. Immer mehr Menschen machen sich deshalb auf den Weg nach Europa, um dort Arbeit und eine Perspektive zu finden. Tunesiens Führung setzt derzeit einzig auf Hilfe in Form eines Milliardenkredits des Internationalen Währungsfonds (IWF), um einen Staatsbankrott des Landes abzuwenden. Die Staatsverschuldung liegt bei mehr als 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Dass die soziale Lage unter diesen Vorzeichen zum Pulverfass werden könnte, müsste auch Präsident Saied wissen. Denn ähnlich war die Situation vor genau zwölf Jahren. Tunesien steuert also auf unsichere Zeiten zu.