Russischer Panzer während einer Übung
IMAGO/TASS/Russian Defence Ministry
Drohkulisse oder Angriffsplan?

Belarus für Ukraine kaum einschätzbar

Nicht zuletzt der Besuch von Russlands Präsident Wladimir Putin bei Machthaber Alexander Lukaschenko am Montag in Belarus hat Sorgen befeuert, dass sich im Norden der Ukraine eine neue Front bilden könnte. Bis jetzt hat Belarus nicht aktiv in den Krieg eingegriffen, doch es besteht die Sorge, dass sich das ändern könnte. Für Lukaschenko selbst könnte eine Beteiligung allerdings schwerwiegende Folgen haben.

Es war der erste Besuch Putins bei Lukaschenko seit 2019, in der Hauptstadt Minsk wurde er feierlich empfangen. Das kurzfristig angesetzte Treffen heizte Gerüchte an, wonach Belarus demnächst eine aktivere Rolle im Ukraine-Krieg einnehmen könnte. Seit Kriegsbeginn im Februar rückte das Land häufig in den Fokus, Putin schickte Tausende Soldaten über die belarussische Grenze in die nördliche Ukraine. Doch aktiv eingegriffen hat Belarus bisher nicht.

Bei den „substanziellen“ Gesprächen wurde ein Abkommen erzielt, um die Zusammenarbeit „in allen Bereichen“ zu verstärken, vor allem im Verteidigungssektor, so Putin. Es handle sich um gemeinsame Maßnahmen, um die Sicherheit beider Länder zu gewährleisten, etwa gegenseitige Waffenlieferungen und die gemeinsame Rüstungsproduktion. Großes Thema war auch die wirtschaftliche Situation – nicht zuletzt im Hinblick auf die Sanktionen des Westens, die Putin einmal mehr als „illegale Beschränkungen“ bezeichnete.

Mehrere Hinweise auf Bewegung an ukrainischer Grenze

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow wies zwar Gerüchte zurück, wonach Putin Belarus zum Eintritt in den Krieg gegen die Ukraine zwingen wolle. Das seien „dumme und unbegründete Hirngespinste“, sagte er der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti im Vorfeld der Gespräche. Doch freilich hinterlässt der kurzfristige Besuch viele Fragen – und ist nicht das einzige Indiz dafür, dass sich im Norden der Ukraine eine Front bilden könnte.

Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin
AP/Sputnik/Pavel Bednyakov
Der erste Besuch Putins bei Lukaschenko seit 2019 heizte Gerüchte über eine neue Front an

Das US-Magazin „Foreign Policy“ etwa verweist auf neue Satellitenbilder, die Militärgerät auf dem Weg an die Grenze zeigen sollen. Auch eine kürzlich erfolgte Überprüfung der Kampfbereitschaft der belarussischen Truppen soll in der Ukraine Sorgen ausgelöst haben, dass sich Minsk künftig am Krieg beteiligen könnte.

Prekäre Lage könnte Lukaschenko bremsen

Doch ein tatsächliches Eingreifen wäre für den Kreml-Verbündeten ein Wagnis, sagt ein ehemaliger Offizier einer belarussischen Spezialeinheit, der nach Europa übergelaufen ist. „Foreign Policy“ sagte er, „Lukaschenko tut sein Bestes, um das Militär nicht in die Ukraine zu schicken. Ihm ist klar, dass die Einzigen, die ihn an der Macht halten können, das Militär und die Sicherheitsdienste sind. Wenn sie in die Ukraine gehen, werden sie entweder sterben oder verwundet werden, und das könnte eine Katastrophe für ihn sein“, so der ehemalige Militär, der von dem Blatt nicht namentlich genannt wird.

Auch die Belarus-Expertin und Journalistin Hanna Liubakova sieht das als Problem für den Machthaber. Die Lage für Lukaschenko sei seit den belarussischen Massenprotesten im Jahr 2020 prekär. Der Großteil der Gesellschaft sei gegen eine Entsendung von Truppen, so Luibakova gegenüber „Foreign Policy“. Vor allem junge Männer wären nicht motiviert zu kämpfen – sollten sie im Krieg sterben, könnte das neue Proteste auslösen und Lukaschenkos Macht gefährden.

Fachleute zweifeln an belarussischer Armee

Wie der britische „Guardian“ schreibt, seien Fachleute weiter skeptisch, dass belarussische Truppen, die als „relativ schwach“ gelten, in die Ukraine einmarschieren würden – selbst dann, wenn Putin den Druck auf Lukaschenko erhöhe. Belarus ist stark von russischem Öl und günstigen Krediten abhängig.

„Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass die belarussischen Streitkräfte in die Ukraine eindringen, ohne dass eine russische Eingreiftruppe dabei ist. Es ist alles andere als klar, dass Lukaschenko belarussische Truppen für einen Kampf in der Ukraine einsetzen würde, auch nicht an der Seite russischer Truppen“, zitiert der „Guardian“ aus einem Bericht des US-Thinktanks Institute for the Study of War.

Bewegungen könnten Ablenkungsmanöver sein

„Foreign Policy“ schreibt, das Überqueren der „stark verminten Grenzregion“ würde mit „hohen Verlusten“ einhergehen. Stattdessen könnte die Aufrüstung an der Grenze lediglich der Ablenkung dienen. Sie würde die Aufmerksamkeit vom hart umkämpften Süden und Osten der Ukraine in den Norden lenken.

Zerstörtes Wohnhaus in Kiew Ende Februar 2022
Reuters/Gleb Garanich
Angriffe auf Kiew wie zu Kriegsbeginn könnten über Belarus erfolgen

Auch Liubakova hält einen unmittelbar bevorstehenden Angriff für unwahrscheinlich, stattdessen sieht sie eine gemeinsame Ablenkungskampagne von Russland und Belarus – dafür wäre „Lukaschenkos Regime hilfreich“. Doch: „Viele Menschen haben sich auch im Februar geirrt, und für Putin wäre die Einnahme Kiews der logischste Punkt aus militärischer Perspektive. Der schnellste Weg nach Kiew führt über Belarus.“

Unklar, ob Lukaschenko Putins Druck standhalten wird

Für den Kreml-Verbündeten Lukaschenko, der seit 1994 in Belarus an der Macht und ist und als letzter Diktator Europas gilt, stellt sich die Frage, wo der Druck überwiegt: Die Instabilität im eigenen Land könnte ihm bei einem Eingreifen selbst zum Verhängnis werden. Doch wie der Belarus-Experte Artjom Schraibman im „Guardian“ sagt, könnte sich Putin letztlich durchsetzen. „Im Moment scheint Putin mit allem zufrieden zu sein, was Lukaschenko ihm gegeben hat. Aber wenn er von Lukaschenko eine direkte Beteiligung am Krieg verlangt, kann ich nicht darauf wetten, dass der sich für immer erfolgreich wehren wird.“