Der amerikanische Präsident Joe Biden und seine Frau Jill Biden empfangen den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj
Reuters/Kevin Lamarque
Treffen mit Biden

Selenskyj im Weißen Haus empfangen

Seine erste Auslandsreise seit Beginn des russischen Angriffskrieges hat den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in die USA geführt. Am Nachmittag (Ortszeit) wurde er von US-Präsident Joe Biden und dessen Ehefrau Jill im Weißen Haus empfangen – später ist eine Rede vor dem Kongress geplant. Kiew hofft, die Karten im Krieg mit einer nun freigegebenen Waffenlieferung neu zu mischen.

Biden sagte der Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland weitere Unterstützung zu. „Wir werden weiterhin die Fähigkeit der Ukraine stärken, sich selbst zu verteidigen, insbesondere die Luftverteidigung, und deshalb werden wir der Ukraine Patriot-Raketenbatterien bereitstellen“, sagte Biden im Oval Office.

Seine Botschaft an den Gast: „Präsident Selenskyj, die Vereinigten Staaten stehen hinter den tapferen Menschen in der Ukraine.“ Selenskyj bedankte sich „von ganzem Herzen“ für die Unterstützung der USA. Die Ukraine sei auf dem Schlachtfeld in einer guten Situation „wegen Ihrer Unterstützung“.

Der amerikanische Präsident Joe Biden mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj
Reuters/Leah Millis
Selenskyj und Biden im Weißen Haus

Zudem übergab Selenskyj Biden die Medaille eines Soldaten. „Ich möchte Ihnen etwas von einem Mann geben, der wirklich ein Held ist.“ Der ukrainische Soldat habe Selenskyj gebeten, die Auszeichnung an Biden weiterzugeben. „Er ist sehr mutig und er sagte, ich solle es an einen sehr mutigen Präsidenten weitergeben.“ Biden bedankte sich. „Unverdient, aber sehr geschätzt“, sagte er.

Patriot-Lieferung bereits im Vorfeld zugesagt

Bereits vor dem Besuch hatten die USA die Lieferung des von Biden eingangs erwähnten Patriot-Flugabwehrsystems an die Ukraine bekanntgegeben. Im Zuge eines 1,85 Mrd. Dollar (rund 1,74 Mrd. Euro) umfassenden US-Hilfspakets wird Kiew dieses Flugabwehrsystem erstmals geliefert. Damit könne die Ukraine „Marschflugkörper, ballistische Kurzstreckenraketen und Flugzeuge in einer deutlich größeren Höhe abschießen als bei bislang gelieferten Luftabwehrsystemen“, sagte US-Außenminister Antony Blinken im Vorfeld von Selenskyjs Besuch.

Selenskyj trifft Biden im Weißen Haus

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj trifft bei seiner ersten Auslandsreise seit Beginn des russischen Angriffskrieges US-Präsidenten Joe Biden in Washington D. C. Er wurde im Weißen Haus zu bilateralen Gesprächen empfangen.

Die Patriots sollen der Ukraine vor allem dabei helfen, die erstarkten Angriffe auf die Energieinfrastruktur des Landes abzuwehren, die Russland seit Wochen führt. Mit dem System würden Infrastruktur und Bevölkerungszentren Fachleuten zufolge besser gegen zerstörerische russische Luftangriffe geschützt, während sich die Bewegungsfreiheit der ukrainischen Streitkräfte auf dem Boden vergrößern würde.

Offene Fragen

Das hat seinen Preis: „Eine Patriot-Rakete kostet etwa drei Millionen Dollar – dreimal so viel wie eine Rakete in einem NASAMS (National Advanced Surface-to-Air Missile System)“, schreibt die BBC. Die Sicherheitsanalysten Michael Weiss und James Rushton schrieben auf Yahoo!News von noch höheren Kosten pro Rakete: Je nach Bauart betragen sie zwischen drei und sechs Mio. Dollar.

Patriot-Flugabwehrsystem
AP/Czarek Sokolowski
Das Patriot-System würde Fachleuten zufolge einen großen Unterschied für die Ukraine ausmachen

Unklar ist, welche Komponenten des Patriot-Systems geliefert werden. Die PAC-2-Version umfasst Langstrecken-Boden-Luft-Raketen mit einer Reichweite von rund 160 Kilometern zur Abwehr von Flugzeugen und Marschflugkörpern. Die kleinere PAC-3-Variante habe eine geringere Reichweite von etwa 30 Kilometern.

Fraglich ist auch, wie schnell das System von der ukrainischen Armee genützt werden kann – und wo die ukrainische Armee auf das System geschult wird. Naheliegend und wahrscheinlich ist, dass Ukrainer – wie auch bei anderen Waffensystemen schon praktiziert – in Deutschland ausgebildet werden, beispielsweise auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr in Bayern.

ORF-Korrespondentin Inka Pieh spricht über den Besuch des ukrainischen Präsidenten Selenskyj bei US-Präsident Joe Biden. Sie ordnet ein, wie hilfreich das von der USA versprochene Patriot-Abwehrsystem für die Ukraine sein wird, inwiefern Friedensverhandlungen mit Russland Thema sind und inwiefern die USA durch die Unterstützung der Ukraine ein strategisches Interesse verfolgt.

Weitere Forderungen erwartet

Die USA sind jedenfalls darauf bedacht, der Ukraine Waffen zu liefern, mit denen sie keine Ziele in Russland angreifen können – auch weil man damit Vorwürfe und eine Eskalation aus Moskau verhindern will. Das Nachrichtenmagazin „Politico“ rechnet in einer Analyse allerdings damit, dass ukrainische Forderungen nach weiteren Waffenlieferungen das Treffen mit Biden dominieren werden.

„Politico“ schreibt mit Verweis auf Insiderinformationen, dass die ukrainische Delegation bei einem Treffen mit Biden und dem nationalen Sicherheitsteam der USA erneut um ballistische Kurzstreckenrakete vom Typ ATACMS sowie um Grey-Eagle- und Reaper-Drohnen bitten werde. Die Ukraine sieht jene Waffen im Kampf gegen Russland als wesentlich an.

„Politico“: Weißes Haus um zukünftige Hilfsgelder besorgt

Die USA dürften den Forderungen dem Vernehmen nach aber nicht entsprechen. „Das Weiße Haus von Biden hat die Zusendung des ATACMS rundweg abgelehnt. Die Kosten dafür sind hoch, sagen US-Beamte“, schreibt „Politico“. So eine Waffenlieferung könnte Kreml-Chef Wladimir Putin zu einer weiteren Eskalation verleiten, so die Befürchtung der USA.

Die USA haben der Ukraine unter Biden bisher militärische Hilfe im Volumen von 20 Milliarden Dollar gewährt. Dessen ungeachtet hat Selenskyj den Westen wiederholt aufgefordert, weitere Hilfe zu leisten und auch Kampf- und Schützenpanzer westlicher Bauart zu liefern.

Wolodymyr Selenskyj spricht vor dem US Kongress
AP/J. Scott Applewhite
Selenskyj wandte sich in der Vergangenheit per Video an den Kongress – am Mittwoch folgte der erste persönliche Besuch

Biden steht nach den Midterms vor einer Herausforderung im Kongress: Obwohl die Mitarbeiter des Weißen Hauses „ihre Bedenken öffentlich herunterspielen“, seien sie besorgt, was die bevorstehende Übernahme des Repräsentantenhauses durch die Republikaner für die Hilfsgelder für Kiew bedeute, schreibt „Politico“ außerdem. Der womöglich nächste Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses könnte der Republikaner Kevin McCarthy werden. McCarthy kündigte bereits an, der Ukraine keinen „Blankoscheck“ mehr auszustellen. Ähnliches ertönte aus anderen Teilen der Partei.

Für die Ukraine sind weitere Hilfen jedenfalls essenziell, um durch den Winter zu kommen. Nach Rückschlägen auf dem Boden ist Russland in den vergangenen Kriegswochen verstärkt dazu übergegangen, ukrainische Städte mit Raketen zu beschießen und dabei besonders die kritische Infrastruktur ins Visier zu nehmen. Millionen Menschen sind bei Minusgraden ohne Strom und Heizung.

Kritik aus Russland

Russland kritisierte Selenskyjs USA-Reise und die angekündigten neuen Waffenlieferungen. „Das alles führt zweifellos zu einer Verschärfung des Konflikts und verheißt an sich nichts Gutes für die Ukraine“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow der russischen Nachrichtenagentur Interfax zufolge. Er erwarte nicht, dass Selenskyj nach seiner Reise eher verhandlungsbereit gegenüber Moskau sein werde. Peskow kritisierte, die Waffenlieferungen würden nicht nur fortgesetzt, sondern um neue Systeme erweitert.

Deutschland begrüßte die Lieferung von US-Raketenabwehrsystemen des Typs Patriot an die Ukraine. Regierungssprecher Steffen Hebestreit betonte aber zugleich, dass Deutschland nicht die Absicht habe, solche Systeme ebenfalls an die Ukraine abzugeben. Nach den drei in Polen stationierten Patriots stünden Deutschland derzeit keine weiteren Systeme dieser Art zur Verfügung.