EU-Flagge und Großbritanien-Flagge
APA/AFP/Ben Stansall
Bevölkerung, Firmen, NGOs

Brexit-Verdruss will nicht vergehen

Nach zwei Jahren Freiheit von der EU stellen sich viele Versprechen der konservativen Torys als leer heraus. Die Bevölkerung leidet unter der verschärften Wirtschaftskrise, die Unternehmen müssen sich ausgerechnet mit mehr Bürokratie herumschlagen. Nun müssen zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) schließen, weil die Regierung sie nicht rechtzeitig aufzufangen vermag. Selbst einstige Brexit-Fans geben jetzt zu: So hatten sie sich das nicht vorgestellt.

Mehr Selbstbestimmung in der Politik, mehr Geld für das Gesundheitswesen, weniger Bürokratie für Unternehmen: Nach Versprechen wie diesen votierte eine Mehrheit der Britinnen und Briten 2016 für das Verlassen der Europäischen Union. Seither haben sich die Nebel gelichtet, die Folgen des Brexit und des Abschieds aus Binnenmarkt und Zollunion schlagen inzwischen vollends durch.

Stark merken das vor allem die unteren Einkommensschichten: Seit Monaten schon macht die „cost of living crisis“, die hohen Lebenshaltungskosten, den einkommensschwächeren Britinnen und Briten zu schaffen. Die Tafeln der Insel verzeichnen die größte Nachfrage ihrer Geschichte. Dem Trussell Trust zufolge, zu dem 1.300 Tafeln in Großbritannien gehören, sind bereits von April bis September in diesem Jahr mehr als 1,3 Millionen Notfalllebensmittelpakete ausgehändigt worden – ein Drittel mehr als in der gleichen Periode im Vorjahr und eineinhalbmal so viel wie vor der Pandemie. Außerdem haben sich 320.000 Menschen in dem Halbjahr erstmalig an die Tafeln gewendet. Das sind 40 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum 2021.

Brexit kommt noch obendrauf

Die Teuerungskrise wirkt global, doch in Großbritannien spielt mit dem Brexit noch ein weiterer bedeutender Faktor mit. Er ließ den Handel mit dem größten Markt vor der Haustüre, der EU, drastisch einbrechen. Die britische Wirtschaft steckt in einer Rezession und hat sich im Vergleich zu anderen Ländern kaum vom Pandemietief erholt. Die Inflation lag zuletzt bei rund elf Prozent, bei Lebensmitteln noch höher. Insbesondere im Norden Englands sind viele Regionen abgehängt, die Kinderarmut ist hoch.

„Es ist deutlich wie nie, dass gemeinnützige Hilfe als Antwort auf die eskalierende Armut weder nachhaltig noch akzeptabel ist“, heißt es von der Tafel-Dachorganisation Independent Food Aid Network zur dpa. Die Menschen würden Löhne brauchen, mit denen sie Lebensmittel für sich und ihre Familien bezahlen können.

Freiwillige bereiten Essenspakete vor
APA/AFP/Oli Scarff
Die Tafeln in Großbritannien verzeichnen eine Nachfrage wie nie zuvor

Wegen der Schwierigkeiten, das Leben zu finanzieren, gehen derzeit zahllose Menschen in Großbritannien auf die Straßen. Eine Streikwelle lähmt das Land, die Beschäftigten im Gesundheitswesen, bei der Bahn und im Handel wollen mit Streiks Lohnerhöhungen erzwingen. Auch das wird die Wirtschaftsleistung weiter schwächen. Schätzungen gehen zudem davon aus, dass der Brexit das Land langfristig vier Prozent an Wirtschaftskraft kosten wird.

NGOs müssen schließen

Auch viele Organisationen leiden unter den Folgen des Brexit, wie am Mittwoch der „Guardian“ berichtete. Zahlreiche Einrichtungen, die vom Europäischen Sozialfonds der EU unterstützt worden waren, hätten schließen oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen müssen, weil sie nicht rechtzeitig oder ausreichend Geld von der britischen Regierung erhalten hätten. Das Blatt berief sich auf eine Analyse der staatlichen Finanzierung, mit der London die EU-Hilfen ersetzen will. Die britische Regierung hatte einen eigenen Fonds namens UK Shared Prosperity Fund (SPF) aufgelegt. Doch der SPF sei für „Hunderte Einrichtungen“ viel zu spät gekommen, so Matthew Brown von der walisischen Dachorganisation Wales Council of Voluntary Action.

Nach Angaben des walisischen Wirtschaftsministers Vaughan Gething stehen in dem Landesteil insgesamt 772 Millionen Pfund (875 Mio. Euro) weniger zur Verfügung als aus dem Sozialfonds sowie dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung geflossen wären. Der britische SPF-Ansatz sei „chaotisch“, sagte Gething. Die britische Regierung wies die Zahlen zurück und verwies darauf, dass man nun „frei von den bürokratischen EU-Prozessen“ sei und mehr Mitsprache habe.

Handelsabkommen hilft nicht

Rund läuft es auch nicht für die britischen Unternehmen, die durch den Brexit die volle Freiheit des Marktes auskosten sollten. Weit gefehlt: „Der Brexit habe sich zum Alptraum für Firmen entwickelt, die Folge sei die größte bürokratische Belastung für Unternehmen, die es je gab“, wurde kürzlich ein Produzent in einem Bericht des britischen Handelskammerverbands (BCC) zitiert. Das 2020 unterzeichnete Handels- und Kooperationsabkommen (TCA) soll seit dem Brexit den zollfreien Handel mit der EU ermöglichen.

Doch mehr als drei Viertel der britischen Unternehmen finden das Handelsabkommen alles andere als gut. Es erschwere die Umsatzsteigerung und den Ausbau ihrer Geschäfte, hieß es in einer Umfrage zum Bericht. Rund 56 Prozent haben der Umfrage zufolge Schwierigkeiten, sich an die neuen Regeln für den Warenhandel anzupassen. 44 Prozent berichteten von Problemen bei der Beschaffung von Visa für ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Befragt wurden 1.200 vorwiegend kleine und mittelständische Betriebe.

„Die Unternehmen haben das Gefühl, mit dem Kopf gegen eine Wand zu stoßen, da fast zwei Jahre nach der Unterzeichnung des TCA noch nichts unternommen wurde, um ihnen zu helfen“, sagte Handelskammerchefin Shevaun Haviland.

„Kosten, Kosten, Kosten“

Der Brexit bedeute „Kosten, Kosten, nichts als Kosten – ohne irgendeinen Vorteil“, sagte kürzlich der Chef des Chemiefabrikanten Robinson Brothers, Adrian Hanrahan, gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Ausgerechnet die überbordende Bürokratie ließen die Kosten nach dem Brexit für ihn explodieren. Das Problem seien nicht die Zölle, die durch das TCA weitgehend abgeschafft wurden, sondern der Berg an Papierarbeit für die Ein- und Ausfuhr. „Wir haben 25 Prozent zusätzliche Verwaltungskosten, nur um den Formalitäten und Prozeduren zu entsprechen und Waren in die EU einzuführen und aus ihr auszuführen“, so Hanrahan. Wenn ein Unternehmen keinen Handel mit der EU betreibe, sei der Brexit vielleicht eine gute Sache. Für alle anderen sei es „einfach nur schwieriger geworden“.

Der Brexit hat auch die Einstellung von Beschäftigten aus dem europäischen Ausland erschwert – wichtig sind sie zum Beispiel in der Gastronomie und der Landwirtschaft.

Wind hat sich gedreht

Auch frühere Brexit-Fans wie Simon Wolfson, Chef der Modekette Next, und Tim Martin, der die Pub-Kette Wetherspoon leitet, fordern von der Regierung deshalb eine Lockerung der Einwanderungsregeln. „Das ist sicher nicht der Brexit, den ich wollte“, sagte Wolfson jüngst in der BBC.

Er steht mit diesem Befund nicht allein da. Beim Austrittsreferendum 2016 stimmten knapp 52 Prozent der Wählerinnen und Wähler dem Brexit zu. Laut einer aktuellen YouGov-Umfrage ist inzwischen nur mehr weniger als ein Drittel der Bevölkerung der Ansicht, dass der EU-Austritt die richtige Entscheidung war.