Passanten gehen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew an zerstörten russischen Panzern vorbei
IMAGO/Kyodo News
Ukraine-Krieg

Experten erwarten Waffenstillstand für 2023

Der Weihnachtsfriede ist in der Ukraine ebenso ausgeblieben wie ein Neujahrswunder – die Intensität der Angriffe nimmt dieser Tage im Gegenteil sogar noch zu. Für das laufende Jahr erwarten Militärexperten eine neue Offensive, einige von ihnen rechnen zugleich aber auch danach mit einem Waffenstillstand und einer Rückkehr zum Verhandlungstisch.

Von einem Ende der Kämpfe geht etwa der frühere Bundeswehr- und NATO-General Hans-Lothar Domröse aus: Zwar würden sowohl die Ukraine als auch Russland in den nächsten Monaten noch einmal eine Offensive starten, um zu versuchen, ihre militärischen Ziele doch noch zu erreichen. Aber er rechne im Frühsommer mit einem Stillstand. Dann würden Russland und die Ukraine erkennen, dass es keinen Sinn ergebe, weiterzukämpfen, wenn kein Raumgewinn mehr möglich sei, meint der ehemalige General.

„Das wäre der Moment für Waffenstillstandsverhandlungen.“ Das bedeute aber noch lange keinen Frieden. Waffenstillstand heiße, man beendet das Schießen und tritt in Verhandlungen ein. Hierbei bleibe nur eine Verhandlungslösung, die für beide Seiten akzeptabel sei, sagte Domröse – „auch wenn Putin eigentlich gern die gesamte Ukraine hätte und Selenskyj die gesamte Ukraine wieder befreien möchte“.

Schwer beschädigtes Hotel in der ukrainischen Hauptstadt Kiew
APA/AFP/Sergei Supinsky
Auch rund zehn Monate nach Kriegsbeginn halten die Kämpfe an – wenn es nach Experten geht, allerdings nicht mehr allzu lange

„Man braucht einen Vermittler“

Als mögliche Lösung nannte der Ex-General, „dass Selenskyj auf die Forderung verzichtet, Gebiete wie die Krim sofort wieder in die Ukraine einzugliedern – man könnte einen Übergang vereinbaren“, so wie es etwa beim Übergang Hongkongs an China eine Übergangsfrist von 50 Jahren gebe.

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres
Reuters/Emilie Madi
UNO-Generalsekretär Guterres als Vermittler?

Doch „die Verhandlungen dürften lange dauern, man benötigt einen Vermittler: vielleicht UNO-Generalsekretär (Antonio) Guterres, der türkische Präsident (Recep Tayyip) Erdogan oder der indische Premier (Narendra) Modi – wobei sich niemand wirklich aufdrängt“.

Verhandlungen im Sommer möglich

Auch der Russland- und Sicherheitsexperte Andras Racz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik prognostiziert, dass es im Sommer Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland geben könnte: „Ich bin ziemlich sicher, dass wir zum Jahresende eine Art Waffenstillstand haben werden: mit hoffentlich gar keinen Kämpfen mehr, aber jedenfalls sehr viel geringeren Kämpfen.“

Es sei unwahrscheinlich, dass Russland einen intensiven Krieg auch vor oder während der 2024 anstehenden Präsidentschaftswahl führen möchte. Racz erwarte, dass Russland deshalb im Laufe des Jahres die Intensität der Kämpfe verringern wolle. „Auch weil sich im Sommer die Nachschubprobleme der russischen Armee verstärken dürften.“

Racz erinnerte daran, dass schon unter den Minsk-Abkommen mehrmals ein Waffenstillstand vereinbart worden war. Damals habe die Intensität der Kämpfe abgenommen, aber sie endeten nicht. „Es war ein begrenzter Krieg, in dem beide Seiten diplomatische Beziehungen hatten, es Handel und Energielieferungen gab – und trotzdem gingen die Kämpfe weiter“, sagte der Sicherheitsexperte. In einem Jahr werde es wieder ein begrenzter Krieg sein.

Wer darf Bedingungen festsetzen?

Der deutsche Europapolitiker David McAllister (CDU) betonte, der Kreml könne und dürfe der Ukraine aber keinen Diktatfrieden aufzwingen, also einen Friedensvertrag, dessen Bedingungen von Russland einseitig festgelegt werden. „Ob und wann die Bedingungen für Waffenstillstandsverhandlungen gegeben sind, das entscheidet allein die ukrainische Regierung“, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament.

Aus Moskauer Sicht wären Gespräche mit der Ukraine nur sinnvoll, wenn Kiew alle russischen Bedingungen akzeptiert. Selenskyj will nicht verhandeln, solange der russische Angriffskrieg auf eine Unterwerfung und Zerstörung der Ukraine hinausläuft.

Der russische Präsident Wladimir Putin
Reuters/Sputnik
Für die weitere Entwicklung des Krieges eine Rolle spielen dürfte im kommenden Jahr auch die russische Präsidentschaftswahl

NATO: Kriegsende am Verhandlungstisch, aber nicht bald

Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg meinte, es sei an Kiew zu entscheiden, zu welchen Bedingungen man sich an den Verhandlungstisch setze. Es sei wahrscheinlich, dass auch dieser Krieg am Verhandlungstisch enden werde, doch entscheidend für den Ausgang solcher Gespräche sei die Stärke der Ukraine auf dem Schlachtfeld, so Stoltenberg, der folglich weitere Waffenlieferungen für die Ukraine forderte.

Die NATO müsse sich darauf einstellen, die Ukraine langfristig zu unterstützen, sagte Stoltenberg weiter. Aus Russland habe es keine Anzeichen gegeben, dass es sein übergeordnetes Ziel einer Übernahme der Ukraine aufgegeben habe. „Die ukrainischen Streitkräfte hatten mehrere Monate lang die Oberhand. Aber wir wissen auch, dass Russland viele neue Kräfte mobilisiert hat, von denen viele jetzt ausgebildet werden.“ Er fügte hinzu: „Das weist darauf hin, dass sie bereit sind, den Krieg fortzusetzen und möglicherweise versuchen, eine neue Offensive zu starten.“

Trotz starker Angriffe: „Ukraine gibt Hoffnung nicht auf“

Auch in der Silvesternacht und am Neujahrstag gab es Raketen- und Drohnenangriffe auf die Ukraine – in der Nacht zum Montag daher auch erneut in vielen Teilen der Ukraine Luftalarm.

Russische Militärblogger berichteten, dass neben Kiew die Regionen Poltawa, Charkiw, Donezk, Dnipropetrowsk, Mykolajiw und Cherson betroffen waren. Die massiven Angriffe mit Kampfdrohnen hatten am Donnerstag begonnen. Auch Russland meldet immer wieder Drohnenangriffe von ukrainischer Seite.

Trotz der Angriffe sei die Hoffnung auf Friede und einen Neubeginn und Wiederaufbau ungebrochen, sagte der Präsident der ukrainischen Caritas-Spes, Weihbischof Olexandr Jaslowezkyj. Doch politischer Friede brauche Zeit, mehr Gebete und mehr Hilfe von Europa – mehr dazu in religion.ORF.at.