Polizisten stehen in Lima Demonstranten gegenüber
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Hauptstadt „übernehmen“

Lima im Belagerungszustand

Peru wird seit der Amtsenthebung und Verhaftung des linksgerichteten Präsidenten Pedro Castillo am 7. Dezember von Unruhen erschüttert. Die Demonstranten und Demonstrantinnen fordern den Rücktritt seiner Nachfolgerin Dina Boluarte und eine Auflösung des Parlaments, um eine Neuwahl abzuhalten. Im Zuge der Proteste starben mindestens 45 Menschen, was die Unruhen verschärfte. Die Proteste verlagern sich nun nach Lima, wo es am Donnerstag erneut zu gewalttätigen Konfrontationen kam.

Tausende Peruanerinnen und Peruaner – viele aus den südlichen Bergbauregionen des Landes – sind am Donnerstag in die Hauptstadt Lima gekommen, um an einer großen Demonstration gegen die Regierung und den Kongress teilzunehmen.

Unter dem Motto „Take over Lima“ forderten sie neben dem Rücktritt von Präsidentin Boluarte einmal mehr eine rasche Neuwahl, eine Räumung des Kongresses und eine neue Verfassung, die die wirtschaftsfreundliche Verfassung des rechtsgerichteten Machthabers Alberto Fujimori aus den 1990er Jahren ersetzen soll. Boluarte rief die Protestierenden in einer Ansprache am Abend zum Dialog auf und kündigte Konsequenzen für diejenigen an, „die Chaos und Unordnung stiften wollen“.

Der als „Marcha de los Cuatro Suyos“ bezeichnete Sternmarsch spiele wohl auf die Vergangenheit an, schrieb die „Neue Zürcher Zeitung“ („NZZ“): Im Jahr 2000 hatten Demonstrationen gegen den umstrittenen Wahlsieg Fujimoris gegen den linken Kandidaten Alejandro Toledo unter dem gleichen Slogan stattgefunden. Die Proteste hatten zahlreiche Todesopfer gefordert.

Gewaltsame Ausschreitungen in Lima

Bei Protesten gegen die peruanische Regierung haben einander Demonstrierende und Polizisten in der Hauptstadt Lima schwere Auseinandersetzungen geliefert. Die Regierungsgegner schleuderten Steine und Feuerwerkskörper auf die Polizisten, die Beamten feuerten Tränengas in die Menge. Mehrere Personen wurden verletzt. Ein Gebäude im Zentrum der Stadt ging in Flammen auf. Ein direkter Zusammenhang mit den Protesten wurde noch nicht bestätigt.

Regierung erklärte Ausnahmezustand

Man wolle die Bewegung nun im „Herzen Perus“ zentralisieren, um zu sehen, ob sich die Regierung „bewege“, erklärten die Demonstrierenden am Donnerstag. Fast 12.000 Beamte waren in Lima im Einsatz. In der Hauptstadt kam es zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und Polizisten. Die Regierungsgegner schleuderten Steine und Feuerwerkskörper auf die Polizisten, die Beamten feuerten Tränengas in die Menge. Bereits am Mittwochabend kam es zu Handgreiflichkeiten, bei denen Protestierende Steine warfen und die Polizei Tränengas einsetzte, um die Menge zu zerstreuen.

In Arequipa im Süden des Landes versuchten rund 1.000 Demonstranten am Donnerstag, den Flughafen zu stürmen. Die Polizei drängte die Menschen mit Tränengas zurück. Nach Angaben des peruanischen Menschenrechtsbeauftragten kam dabei ein Demonstrant ums Leben. Vor allem im Süden Perus hatten zuletzt Anhänger Castillos der Polizei immer wieder gewaltsame und teilweise auch tödliche Auseinandersetzungen geliefert. Die peruanische Regierung hatte am Sonntag in der Hauptstadt Lima und unter anderem für die Gebiete um die Städte Cusco, Puno und Callao einen Ausnahmezustand erklärt.

Ein Haus in Lima steht in Brand
AP/Martin Mejia
Im Zentrum von Lima ging ein Gebäude in Flammen auf

Empörung über Todesopfer heizt Proteste an

Die steigende Zahl an Todesopfern hat die Proteste, die sich ursprünglich auf den Rücktritt Boluartes konzentrierten, weiter angeheizt. Menschenrechtsorganisationen und die UNO haben den peruanischen Sicherheitskräften vorgeworfen, mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen die Proteste vorzugehen – unter anderem durch den Einsatz von scharfer Munition und den Abschuss von Tränengaskanistern aus Hubschraubern.

58 Prozent der Peruaner sind laut einer Umfrage des Instituts für peruanische Studien in diesem Monat der Meinung, dass die Sicherheitskräfte angesichts der Proteste übertrieben gehandelt haben. Die gleiche Umfrage ergab, dass 83 Prozent der Befragten für eine vorgezogene Wahl sind und nur drei von zehn Peruanern die Regierung Boluarte gutheißen.

Eine andere Umfrage des Meinungsforschungsinstituts LAOB aus dem vergangenen Jahr ergab, dass nur 21 Prozent der Peruaner mit der Demokratie zufrieden sind – abgesehen von Haiti der niedrigste Wert in allen Ländern Lateinamerikas und der Karibik. Und mehr als die Hälfte der Peruaner, die an der Umfrage teilnahmen, bezeichneten eine Übernahme des Landes durch das Militär bei einem hohen Maß an Korruption als „gerechtfertigt“.

Tödlichste politische Gewalt „seit zwei Jahrzehnten“

Laut dem Vizepräsidenten der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, Edgar Ralon, habe die aktuelle politische Krise in Peru zur tödlichsten politischen Gewalt seit zwei Jahrzehnten beigetragen. Diskriminierung und Ungleichheit hätten ebenfalls eine Rolle gespielt, während die Bezeichnung von Demonstrierenden als Terroristen zur Polarisierung und zum Konflikt beigetragen habe, so Ralon gegenüber dem „Guardian“.

Zusammenstöße in der peruanischen Hauptstadt Lima zwischen Polizei und Teilnehmern der Antiregierungsprotesten
AP/Martin Mejia
Eine Regierungsgegnerin, die für die Demonstration in die Hauptstadt gereist ist, wird von der Polizei in Lima festgenommen

Die blutigen Proteste haben inzwischen auch wirtschaftliche Folgen. Fast alle Buchungen bis Ende März seien storniert worden, berichtete die peruanische Nachrichtenagentur Agencia Andina unter Berufung auf die Handelskammer der Region um Cusco kürzlich. Dabei sind viele Peruanerinnen und Peruaner auf Einnahmen durch Attraktionen wie Machu Picchu angewiesen – in Cusco leben rund 60 Prozent der Menschen vom Tourismus.

Demokratie konnte Versprechen nicht halten

Peru zählt zu den jüngsten Demokratien in Nord-, Mittel- und Südamerika – freie und faire Wahlen wurden erst 2001 wieder eingeführt. Bessere Lebensbedingungen hätten die vergangenen zwei Jahrzehnte seit der Wiedereinführung der Demokratie allerdings nicht gebracht, berichtete der Sender CNN. Zwar habe die Wirtschaft floriert, der Staat habe es jedoch nicht geschafft, „chronische Mängel“ in den Bereichen Sicherheit, Justiz und Bildung zu beheben.

„Sicherheit, Justiz, Bildung und andere grundlegende Dienstleistungen sind nach wie vor unzureichend, was zu einer weit verbreiteten Wahrnehmung von Korruption, Ungerechtigkeit, Ineffektivität und Vernachlässigung durch die Regierung führt“, zitierte CNN Steven Levitsky von der Harvard University. „Das ist eine der Hauptursachen für die Unzufriedenheit der Bevölkerung. Wo solche Wahrnehmungen über mehrere Regierungen hinweg fortbestehen, wird das Vertrauen der Öffentlichkeit in die demokratischen Institutionen wahrscheinlich schwinden.“

„Menschen fühlen sich nicht vertreten“

Gegenüber CNN gaben mehrere Demonstrierende an, das Land brauche einen Neuanfang und forderten Neuwahlen in allen Bereichen, um den öffentlichen Institutionen wieder „ein Gefühl der Legitimität zu geben“. Boluarte weigert sich hingegen, zurückzutreten oder eine Neuwahl abzuhalten. Stattdessen ersetzte sie hochrangige Regierungsmitglieder, etwa den ehemaligen Arbeitsminister Eduardo Garcia, der wegen des Umgangs der Regierung mit den Protesten in Kritik geraten war.

Boluarte entschuldigte sich für die Todesfälle bei den Demonstrationen, bestand aber gleichzeitig darauf, dass radikale Extremisten die Proteste initiiert und Menschen zur Teilnahme gezwungen hätten. Laut Patricia Zarate, Leiterin der Abteilung für öffentliche Meinungsforschung am Institut für peruanische Studien, hätten Extremisten zwar eine Rolle bei den Protesten gespielt – die Aussage Boluartes werde jedoch als herablassend wahrgenommen.

Menschenmengen in Ilave (Peru) neben Bussen, die die Bewohner zu Antiregierungsprotesten in die Hauptstadt bringen
APA/AFP/Juan Carlos Cisneros
Menschen verabschiedeten sich in der Stadt Ilave von Demonstrierenden, die sich auf den Weg nach Lima machen

„Sie behandelt die Menschen, als hätten sie keine Kontrolle über ihre politische Meinung, als würden sie manipuliert und verstünden nicht, warum sie marschieren“, sagte sie gegenüber dem „Guardian“. „Die Menschen fühlen sich vom politischen System nicht vertreten und wollen einbezogen werden.“

Kluft zwischen Lima und dem Rest des Landes

Perus Generalstaatsanwalt hat inzwischen eine Untersuchung über Boluartes Umgang mit den Unruhen eingeleitet. Doch selbst wenn die derzeitige Regierung abdanke und ein anderer Politiker ins Präsidentenamt aufsteige, würden die Ursachen der Unruhen in Peru bestehen bleiben, so CNN.

Denn die politischen Krisen dauern schon seit Jahrzehnten an. Seit dem Jahr 2000 wurden bis auf eine Ausnahme alle gewählten Präsidenten abgesetzt oder verhaftet – außer Alan Garcia, der vor seiner Verhaftung Suizid beging. Der Staat in Südamerika ist zudem gezeichnet von einer tiefen Kluft zwischen der mächtigen Hauptstadt Lima und dem übrigen Land, das sich nach wie vor großteils mit Castillo identifiziert.

Kein Vertrauen in Institutionen

Viele Peruanerinnen und Peruaner fühlen sich von den Institutionen und dem Parlament, das als korruptes Schlangennest angesehen wird, vernachlässigt. Mit Castillos Sieg in der Präsidentschaftswahl 2021 glaubten sie an Veränderung im Land. Er hatte unter anderem auch eine neue Verfassung angekündigt und weitreichende Versprechen für die indigene Bevölkerung abgelegt.

Doch bald nach Amtsantritt gab der ehemalige Lehrer seine Versprechungen zu grundlegenden Veränderungen wieder auf. Während einige seiner Anhänger von den gebrochenen Versprechen enttäuscht sind, sehen viele von ihnen die Schuld für Castillos Scheitern beim korrupten Parlament.