Antiregierungsprotest in Lima
Reuters/Sebastian Castaneda
Brutale Ausschreitungen in Peru

Tiefpunkt einer demokratischen Krise

Seit Wochen kommt es in Peru nach der Amtsenthebung und Verhaftung des ehemaligen Präsidenten Pedro Castillo zu Protesten und schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Demonstrierenden. Sie fordern den Rücktritt der amtierenden Präsidentin Dina Boluarte, eine Auflösung des Parlaments und eine neue Verfassung. Das Ausmaß der Gewalt ist nicht allein der aktuellen politischen Situation geschuldet, sondern gilt als Eskalation einer jahrelangen Krise – bei der Korruption eine maßgebliche Rolle spielt.

Nach Angaben der nationalen Ombudsstelle und des Innenministeriums wurden bei den Zusammenstößen seit Beginn der Unruhen landesweit mindestens 55 Menschen getötet und mehr als 500 Polizeibeamte verletzt. Die peruanische Polizei verweist auf die Einhaltung internationaler Standards. Laut der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IACHR) sind jedoch während der Proteste Schusswunden in den Köpfen und Oberkörpern der Opfer gefunden worden.

Einige peruanische Gesetzgeber haben inzwischen einen Antrag auf Amtsenthebung von Präsidentin Boluarte eingereicht, wie aus einem von Reuters eingesehenen Dokument hervorgeht, in dem sie sich auf „permanente moralische Unfähigkeit“ berufen. Der Antrag, der von mehr als 20 linken Kongressabgeordneten, die Castillo unterstützen, unterzeichnet wurde, muss mit 52 Stimmen angenommen werden, bevor er im Kongress debattiert werden kann.

Peruanische Präsidentin Dina Boluarte
Reuters/Angela Ponce
Boluarte ist die erste Frau an der Spitze der peruanischen Republik

Parlament lehnt Neuwahlen noch heuer ab

Angesichts der anhaltenden Proteste hat Boluarte das Parlament um vorgezogene Wahlen noch in diesem Jahr gebeten. Das Parlament lehnte ihren Antrag mit einer Mehrheit der Abgeordneten aber ab. Zwar erhielt Parlamentspräsident Jose Williams kurz nach der Abstimmung einen weiteren Antrag, das Votum nochmals zu „überprüfen“. Es dürfte aber schwierig sein, das Ergebnis zu revidieren.

Proteste in Peru dauern an

Seit Wochen kommt es in Peru nach der Amtsenthebung und Verhaftung des ehemaligen Präsidenten Pedro Castillo zu Protesten und schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Demonstrierenden. Sie fordern den Rücktritt der amtierenden Präsidentin Dina Boluarte, eine Auflösung des Parlaments und eine neue Verfassung. Das Ausmaß der Gewalt ist nicht allein der aktuellen politischen Situation geschuldet, sondern gilt als Eskalation einer jahrelangen Krise – bei der Korruption eine maßgebliche Rolle spielt.

Castillo als gescheiterter Hoffnungsträger

Dabei war Castillos Präsidentschaft selbst höchst chaotisch verlaufen. Der frühere Dorfschullehrer wollte im Dezember einem Misstrauensvotum zuvorkommen und löste den Kongress auf, das Parlament enthob ihn daraufhin des Amtes. Er wurde wegen des Vorwurfs eines versuchten Staatsstreichs festgenommen und sitzt nun in Untersuchungshaft.

Das Tempo der aktuellen Ereignisse sei nicht ungewöhnlich für Peru, wo seit 2018 noch ein Präsident des Amtes enthoben wurde und zwei weitere zurückgetreten sind. Das Ausmaß der Gewalt, die auf Castillos Amtsenthebung folgte, markiere jedoch eine neue und tragische Eskalation einer jahrelangen Krise, so das US-amerikanische Journal „Foreign Affairs“.

Vor allem die ärmere Bevölkerung in ländlichen Regionen hatte in Castillo nach jahrzehntelanger Diskriminierung die Möglichkeit für Veränderung gesehen – hatte er doch unter anderem auch eine neue Verfassung angekündigt und weitreichende Versprechen für die indigene Bevölkerung abgelegt. Doch bald nach Amtsantritt gab Castillo seine Versprechungen wieder auf. Während einige seiner Anhänger sich enttäuscht zeigten, sehen nach wie vor viele die Schuld für Castillos Scheitern beim wegen Korruption verhassten Parlament.

Ehemaliger peruanischer Präsident Pedro Castillo
IMAGO/Agencia EFE/Alberto Valdes
Der ehemalige Lehrer wechselte während seiner Amtszeit im Schnitt alle sechs Tage einen Minister im Kabinett aus

Korruption als nationales Problem

In der peruanischen Korruption müsse man auch die Ursprünge für die große Unzufriedenheit suchen, die derzeit in die brutalen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden mündet, schreibt das US-Magazin „Foreign Policy“. In fast allen öffentlichen Einrichtungen Perus sehe man „zügellose Bestechung“. Das Motto „Roba pero hace obras“ („Er stiehlt, aber er führt öffentliche Arbeiten aus“) veranschauliche, wie abgestumpft die Bevölkerung bereits sei, so „Foreign Policy“.

So sei es völlig gängig, Verkehrspolizisten mit einer Limonade zu beschwichtigen oder Angestellten im Migrationsministerium Geld zu zahlen, um seinen Pass schneller ausgestellt zu bekommen. Dasselbe gilt freilich auch für größere Dimensionen: So soll etwa das brasilianische Bauunternehmen Odebrecht dem damaligen Präsidenten Alejandro Toledo in den frühen 2000er Jahren für einen Vertrag zum Bau von Abschnitten der Interozeanischen Autobahn 20 Millionen Dollar gezahlt haben.

Höchste Sterberate während Pandemie

Laut einer Studie der Antikorruptionsorganisation Transparency International aus dem Jahr 2022 haben knapp zwei Drittel der Peruaner den Eindruck, dass die Finanzen ihrer Familie durch Bestechung direkt geschädigt wurden. Und auch die gesamtwirtschaftliche Entwicklung des Landes wird durch korrupte Vorgänge verlangsamt und die Umsetzung der öffentlichen Politik sabotiert. Dabei gebe es viele Baustellen, von unzureichender Bildung und Ernährungsunsicherheit bis hin zur Krise der Gesundheitsversorgung, die während der CoV-Pandemie mit der höchsten Sterberate der Welt ihren traurigen Höhepunkt erreichte.

Massengräber in San Juan Bautista im Mai 2021
AP/Rodrigo Abd
Die Pandemie brachte in Peru die höchste Pro-Kopf-Todesrate der Welt

Obwohl sich Perus Wirtschaft von den Folgen der Pandemie größtenteils wieder erholt hat, haben viele Menschen das Gefühl, dass die zumindest finanzielle Erholung nicht bei ihnen ankommt: Die Armutsbekämpfung in Peru schreitet laut Weltbank nur langsam voran, die Schere zwischen Arm und Reich klafft weiter auseinander. Fast jeder dritte Bürger lebt in Armut, vor allem in den ländlichen Regionen müssen viele ohne Trinkwasser, Strom und Zugang zu Gesundheitsversorgung leben.

„Gesamtes System zugunsten der Mächtigen manipuliert“

„Wenn man einen Leiter der städtischen Dienste hat, der nur deshalb ernannt wurde, weil er der Cousin des Bürgermeisters ist oder dem Bürgermeister Geld unter dem Tisch gezahlt hat, anstatt weil er für die Stelle qualifiziert ist, dann wird es natürlich ineffiziente und unzureichende öffentliche Dienste geben“, sagte Samuel Rotta, Geschäftsführer von Transparency International.

Perus Parlament wird von 60 Prozent der Peruaner als korrupt angesehen. Das Parlament sei es auch gewesen, das Missbräuche und Skandale der Castillo-Regierung zunächst ignoriert und dann einen Angriff auf die Legitimität von Castillos überraschendem Wahlsieg unternommen habe, indem es 200.000 Stimmen von hauptsächlich indigenen, Castillo unterstützenden Wählern abgelehnt habe, so „Foreign Policy“.

„Dieses ständige Trommelfeuer von Skandalen prägt die Wahrnehmung der Menschen, dass das gesamte System gegen sie und zugunsten der Mächtigen manipuliert ist“, so Noam Lupu, Politikwissenschaftler an der Vanderbilt University und Leiter des AmericasBarometer, gegenüber dem US-Magazin. „Das führt zu einem Gefühl der Straflosigkeit, das den ganzen Staat durchdringt, von lokalen Bürokraten wie der Verkehrspolizei, die Bestechungsgelder verlangen, bis hin zur Korruption auf höchster Ebene.“

Antiregierungsprotest in Lima
Reuters/Pilar Olivares
Die Wut über die Lebensbedingungen und die Ungleichheit im Land heizen die Proteste weiter an

„Chronische Mängel“ in staatlicher Infrastruktur

Peru zählt zu den jüngsten Demokratien in Nord-, Mittel- und Südamerika – freie und faire Wahlen wurden erst 2001 wieder eingeführt. Bessere Lebensbedingungen hätten die vergangenen zwei Jahrzehnte seit der Wiedereinführung der Demokratie allerdings nicht gebracht, berichtete der Sender CNN. Zwar habe die Wirtschaft floriert, der Staat habe es jedoch nicht geschafft, „chronische Mängel“ in den Bereichen Sicherheit, Justiz und Bildung zu beheben.

Zwischendurch sind bereits politische Maßnahmen angestrengt worden, um die Korruption einzudämmen – allerdings ohne Erfolg. So hatte etwa der ehemalige Präsident Martin Vizcarra während seiner Amtszeit von 2018 bis 2020 Gesetzgeber zur Annahme von Reformen wie der Einführung von Vorwahlen für Parteien, die Beschneidung der parlamentarischen Immunität und das Verbot für Personen mit aktuellen Vorstrafen, für öffentliche Ämter zu kandidieren, erzwungen. Doch schließlich wurde er selbst wegen Bestechung angeklagt.

Demokratie von „Korruption zerfressen“

Es lasse sich nicht leugnen, dass die Unruhen in Peru auf „tief verwurzelter Diskriminierung und Ungleichheit beruhen“, so „Foreign Policy“. Aktuell würde sich aber vor allem abzeichnen, wie eine Demokratie bei „lebendigem Leib von Korruption zerfressen wird“. Selbst wenn die Forderungen der Demonstrierenden umgesetzt und Neuwahlen abgehalten werden würden, würden diese ohne die Aussicht auf ein umfassendes Antikorruptionspaket langfristig wohl zu keiner Besserung führen.

Der Jänner 2023 markiere den vorläufigen Tiefpunkt der peruanischen Krise, schreibt auch „Foreign Affairs“. Ohne eine schnelle Reaktion der Regierung Boluarte – wie etwa die Übernahme der Verantwortung für die brutalen Ausschreitungen bei den Protesten – könnte es sich im Nachhinein als eine verpasste Gelegenheit erweisen, Perus Demokratie und Stabilität vor einem noch größeren Zerfall zu bewahren.