Rettungskräfte durchsuchen Trümmer nach Überlebenden.
AP/Hussein Malla
Beben in Türkei und Syrien

Bereits mehr als 5.000 Tote

Die Opferzahl im Erdbebengebiet im türkisch-syrischen Grenzgebiet steigt weiter – und nach wie vor werden viele Menschen unter den Trümmern vermutet. Die Zahl der bestätigten Toten stieg am Dienstag auf über 5.000. In der Türkei wurde der Notstand ausgerufen. Nachbeben und das schlechte Wetter behindern den Rettungseinsatz – und auch die Versorgung der vom Beben betroffenen Bevölkerung.

Bisherigen Informationen zufolge wurden in der Südtürkei und in Nordsyrien mehr als 23.500 Menschen verletzt. In der Türkei stieg die Zahl der Todesopfer auf 3.549. Das teilte Präsident Recep Tayyip Erdogan am Nachmittag mit. In Syrien liegt die Zahl laut Behörden und Einsatzkräften bei rund 1.600 Toten.

Einen Tag nach den verheerenden Beben rief Erdogan den Notstand aus. Er gelte für drei Monate in zehn von den schweren Erdstößen betroffenen Provinzen. Zugleich kündigte Erdogan an, Hotels in der Touristenregion Antalya am Mittelmeer für Opfer der Beben öffnen zu wollen.

Über 24.400 Helfer entsandt

Nach Angaben des türkischen Gouverneurs von Istanbul, Ali Yerlikaya, machten sich Dienstagfrüh Tausende zusätzliche Helferinnen und Helfer vom städtischen Flughafen aus auf den Weg in die von Erdbeben verheerend getroffene Südtürkei. In Summe entsandte die Türkei damit mehr als 24.400 Such- und Rettungskräfte in das Erdbebengebiet. Türkischen Regierungsangaben zufolge stürzten 5.775 Gebäude ein. Allein in der Türkei seien 13,5 Millionen Menschen direkt vom Beben betroffen.

Zusammen mit Syrien sind es nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bis zu 23 Millionen vom Beben Betroffene. Eine Übersicht der betroffenen Gebiete in beiden Ländern ergebe, dass „potenziell 23 Millionen Menschen“ den Folgen des Bebens ausgesetzt seien, darunter fünf Millionen ohnehin besonders verletzliche Menschen, sagte die hochrangige WHO-Vertreterin Adelheid Marschang am Dienstag in Genf.

Aufnahmen zeigen Ausmaß der Zerstörung

Drohnenaufnahmen zeigen zahlreiche eingestürzte Gebäude in der türkischen Grenzprovinz Hatay nach den verheerenden Erdbeben. Bei den Erschütterungen stürzten allein in der Südosttürkei Tausende Gebäude ein.

Hunderte Familien unter Trümmern vermutet

Vor allem aus den Rebellengebieten in Syrien gibt es bisher nur wenige Informationen. Die Lage dürfte dort besonders dramatisch sein. Millionen Binnenflüchtlinge leben dort, oft in Lagern. In den von der Regierung kontrollierten Gebieten dürfte auch die vom Bürgerkrieg schwer zerstörte Stadt Aleppo besonders betroffen sein.

Aleppo: Mädchen aus Trümmern gerettet

Rettungskräfte haben in Aleppo ein kleines Mädchen aus den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes lebend geborgen. Das Kind war über mehrere Stunden nach den verheerenden Beben verschüttet.

Retter in Syrien vermuten, dass noch immer Hunderte Familien unter den Trümmern begraben sind. Die Suche über Nacht sei aufgrund von Sturm und fehlender Ausrüstung nur „sehr langsam“ verlaufen, hieß es von den Weißhelmen, die in den von Rebellen gehaltenen Gebieten Syriens aktiv sind. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte seien die Krankenhäuser dort hoffnungslos überfordert und könnten nicht allen Verletzten das Leben retten.

Es wird befürchtet, dass mit Fortschreiten der Rettungsarbeiten die Opferzahl in beiden Ländern weiter steigt. Oft sei bei Erdbeben die Zahl der Todesopfer am Ende „achtmal höher als die ersten Bilanzen“, sagte beispielsweise Catherine Smallwood von der Weltgesundheitsorganisation (WHO): „Leider passiert bei Erdbeben immer dasselbe: Die Zahl der Opfer und Verletzten steigt in der Woche danach stets signifikant.“

Überlebende in verzweifelter Lage

Tausende Menschen wurden von Rettungskräften aus den Trümmern geborgen. Für die Überlebenden ist die Lage dramatisch. Nicht nur trauern sie um Familie und Freunde bzw. bangen um sie – auch am Nötigsten zum Leben fehlt es. Im südtürkischen Hatay sei der Strom ausgefallen, berichtete eine Augenzeugin der dpa. Die Tankstellen hätten kein Benzin mehr, und es gebe kein Brot zu kaufen. Auch in der Nachbarprovinz Osmaniye sei der Strom ausgefallen, sagte eine Reporterin des Senders CNN Türk.

In der südosttürkischen Metropole Diyarbakir verbrachten viele Menschen die Nacht draußen, in Schulen oder Moscheen, wie ein dpa-Mitarbeiter berichtete. „Die Menschen haben Angst, in ihre Häuser zurückzukehren“, sagte er. Mehrere Nachbeben seien zu spüren gewesen, und es sei bitterkalt. Die Zelte der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD seien nicht beheizt und reichten nicht aus.

Viele Einwohner Diyarbakirs versuchten, in die Dörfer zu gelangen. Die Häuser dort sind in der Regel einstöckig und gelten daher als sicherer. „Es herrscht Anspannung, die Menschen wissen wirklich nicht, was sie machen sollen“, sagte er.

„Es gibt permanent Nachbeben“

Das Beben der Stärke 7,8 überraschte die Menschen im Südosten der Türkei und im angrenzenden Syrien in der Nacht. Im Laufe des Montags folgten mehrere Nachbeben, eines davon mit einer Stärke von 7,6 nur wenig leichter als der ursprüngliche Erdstoß. Die Erschütterungen waren in mehreren Nachbarländern zu spüren, darunter im Libanon, im Irak sowie in Zypern und Israel.

Epizentren und Erdbebenstärke gemäß USGS (mmw) vom 6. und 7.2.2023.

Insgesamt seien bisher über 240 Nachbeben registriert worden, teilte die AFAD am Dienstag mit. „Es gibt permanent Nachbeben. Stärke fünf, Stärke sechs“, sagte eine in Hatay lebende Wienerin zur APA. Damit sei auch die Gefahr, dass weitere Häuser einstürzen, weiter groß.

Winterkälte verschärft Situation

Erschwert werden die Rettungsarbeiten durch die tiefen Temperaturen – sie liegen in den betroffenen Gebieten zurzeit oft im Minusbereich. Der türkische Wetterdienst hat für die vom Erdbeben betroffenen Gebiete weiter niedrige Temperaturen und teils Schneefall und Regen vorhergesagt. In den südöstlichen Provinzen Mardin und Diyarbakir werde Schnee erwartet, teilte die meteorologische Generaldirektion am Dienstag mit.

In den Provinzen Malatya und Hatay soll es regnen. Winde könnten bis zu 50 Kilometer pro Stunde erreichen. Am Kältesten werde es voraussichtlich in der Provinz Kahramanmaras, dem Epizentrum des Bebens. Die niedrigste dort zu erwartende Temperatur für Dienstag sei fünf Grad minus, die höchste ein Grad.

In die drei am meisten betroffenen Provinzen Hatay, Kahramanmaras und Adiyaman dürften türkischen Regierungsangaben zufolge nur noch Rettungsfahrzeuge und Hilfstransporte fahren. Dasselbe gelte für den Verkehr aus den drei Provinzen heraus.

Feuerwehrmänner der Organisation „@fire“ am Flughafen in Adana
Reuters/Benoit Tessier
Rettungskräfte warten in Istanbul auf ihren Flug ins Krisengebiet

Hilfsaufrufe und -zusagen

Zahlreiche Organisationen starteten Hilfsaufrufe, darunter die Caritas, das Rote Kreuz, die Diakonie, Ärzte ohne Grenzen, der Arbeiter-Samariter-Bund, CARE und World Vision. Caritas-Auslandshilfe-Generalsekretär Andreas Knapp sagte, es gehe vor allem um die Deckung der Grundbedürfnisse wie „Erste Hilfe, Nahrungsmittel und Wasser, Decken und Schlafsäcke, psychologische Betreuung und die Koordination von Unterkünften“. Vor allem das von mehreren Krisen gebeutelte Syrien habe das Beben in einer verheerenden Lage erwischt.

Aus zahlreichen Ländern kamen inzwischen Hilfsangebote, erste internationale Rettungsteams sind bereits in den betroffenen Regionen oder auf dem Weg dorthin. Bis das tatsächliche Ausmaß der Folgen der Katastrophe sichtbar wird, dürften zumindest noch Tage vergehen.

Über das Zentrum für Katastrophenhilfe der EU wurden bisher 27 Such- und Rettungsteams mobilisiert. Wie der zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic am Dienstagvormittag mitteilte, entspricht das insgesamt mehr als 1.150 Rettungskräften und 70 Hunden. Lenarcic danke den hier beteiligten 19 europäischen Staaten. Neben EU-Staaten seien dem EU-Kommissar zufolge auch andere europäische Länder wie Albanien und Montenegro an den von der EU koordinierten Hilfsbemühungen beteiligt.

Rettungskräfte und Zivilpersonen bei der Rettung eines Überlebenden
APA/AFP/Ozan Kose
Einsatzkräfte bei der Rettung eines Überlebenden in Kahramanmaras

48 Stunden kritische Grenze

Die Überlebenschancen für Menschen, die unter eingestürzten Gebäuden gefangen sind, liege bei wenigen bis 48 Stunden, hieß es von Hilfsorganisationen und Expertinnen und Experten. „Die nächsten 24 Stunden sind entscheidend, um Überlebende zu finden. Nach 48 Stunden nimmt die Zahl der Überlebenden enorm ab“, sagte etwa die britische Vulkanologin und Risikoforscherin Cemnen Solana von der Universität von Portsmouth.

Region mit stetiger Gefahr von Erdbeben

Die Türkei ist immer wieder von schweren Erdbeben betroffen. Dort grenzen zwei der größten Kontinentalplatten aneinander: die afrikanische und die eurasische. Der größte Teil der türkischen Bevölkerung lebt faktisch in ständiger Erdbebengefahr.

Im Jahr 1999 war die Türkei von einer der schwersten Naturkatastrophen in ihrer Geschichte getroffen worden: Ein Beben der Stärke 7,4 in der Region um die nordwestliche Industriestadt Izmit kostete mehr als 17.000 Menschen das Leben. Infolge dieses verheerenden Bebens verabschiedete die türkische Regierung 2004 ein neues Gesetz, das vorschreibt, dass alle Bauten modernen erdbebensicheren Standards entsprechen müssen.