Zerstörung nach Erdbeben in Hatay, Türkei
Reuters/Umit Bektas
Zahl der Opfer steigt weiter stark

Schwieriger Einsatz im Bebengebiet

Tausende Tote und bis zu 23 Millionen Betroffene – am ersten Tag nach der Erdbebenkatastrophe im türkisch-syrischen Grenzgebiet wird das Ausmaß der Katastrophe zunehmend sichtbar. Noch immer werden viele Menschen unter den Trümmern vermutet. Winterwetter, zerstörte Infrastruktur und in manchen Regionen erst anlaufende Einsätze sind für die Retter nur einige Hürden in einem Wettlauf mit der Zeit.

Wie die türkische Katastrophenschutzbehörde mitteilte, wurden bis Dienstagabend alleine im türkischen Bebengebiet 5.434 Todesopfer geborgen. Aus Syrien werden mittlerweile mehr als 1.800 Tote gemeldet: In den von der Regierung kontrollierten Provinzen Aleppo, Latakia, Hama, Idlib und Tartus kamen laut der staatlichen Nachrichtenagentur SANA mindestens 812 Menschen ums Leben.

Mindestens 1.020 Menschen starben nach Angaben der Zivilschutzorganisation Weißhelme im von der Opposition gehaltenen Nordwesten Syriens. Es sei aber davon auszugehen, dass die Zahlen noch „dramatisch ansteigen“ werden. Bisherigen Informationen zufolge wurden im Bebengebiet zudem mehr als 30.000 Menschen verletzt. Dazu kommen zahllose Obdachlose: Allein in der Türkei wurde die Zahl der eingestürzten Gebäude am Dienstag von der Regierung mit 5.775 beziffert.

Erdogan ruft Notstand aus

Laut türkischen Angaben sind im Land 13,5 Millionen Menschen direkt vom Beben betroffen. Zusammen mit Syrien sind es nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bis zu 23 Millionen vom Beben Betroffene. Eine Übersicht der betroffenen Gebiete in beiden Ländern ergebe, dass „potenziell 23 Millionen Menschen“ den Folgen des Bebens ausgesetzt seien, sagte die hochrangige WHO-Vertreterin Adelheid Marschang am Dienstag in Genf.

Nach Angaben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gilt in den zehn vom Beben betroffenen Provinzen im Süden des Landes seit Dienstag für drei Monate der Notstand. Zugleich erklärte er die Region zum Katastrophengebiet. Dadurch sollten schnelle Hilfseinsätze ermöglicht werden. Die Regierung plane zudem, von den schweren Erdstößen betroffene Menschen vorübergehend in Hotels in der westlich gelegenen Tourismusmetropole Antalya unterzubringen.

Mehr als 8.000 Verschüttete seien gerettet worden, sagte Erdogan weiter. Mehr als 50.000 Rettungskräfte arbeiteten rund um die Uhr, immer mehr ausländische Helfer kämen hinzu. „Das ist eine der größten Katastrophen unserer Region und der Welt, nicht nur der Geschichte unserer Republik“, so Erdogan, dem zufolge mittlerweile 70 Länder Hilfe angeboten haben.

Erdbeben: Wettlauf gegen die Zeit

Bei einem der verheerendsten Beben in der Region seit Jahrzehnten sind im türkisch-syrischen Grenzgebiet Tausende Menschen ums Leben gekommen. Für die Suchtrupps ist es auch aufgrund der Kälte ein Wettlauf gegen die Zeit.

Infrastruktur als „Flaschenhals“

Als große Hürde für die Hilfskräfte erweist sich die schwer in Mitleidenschaft gezogene Infrastruktur. „Die Flughäfen im Katastrophengebiet sind geschlossen“, sagte am Dienstag Marcus Bachmann, Beauftragter für humanitäre Angelegenheiten bei Ärzte ohne Grenzen (MSF) Österreich. Neben dem „Flaschenhals“ Verkehrsinfrastruktur verwies Bachmann auf die prekäre Wetterlage.

Das betreffe einerseits die Überlebenden, die bei starken Niederschlägen und großer Kälte ohne Dach über dem Kopf seien, andererseits Hilfsorganisationen, weil die Passierbarkeit von Verkehrswegen über Land sehr erschwert ist.

Rettung eines Kindes aus Trümmern in Hatay, Türkei
Reuters/Umit Bektas
In manchen Regionen läuft der Rettungseinsatz erst an

In den Bebengebieten herrscht Winterwetter, eine Entspannung zeichnet sich nicht ab. Im Gegenteil, der türkische Wetterdienst sagte weiter niedrige Temperaturen und teils Schneefall und Regen vorher.

„Fenster schließt sich sehr rasch“

Bachmann bestätigte, dass einige Regionen sowohl in der Türkei – etwa die Provinz Hatay – als auch in Syrien bisher von Rettungskräften noch gar nicht erreicht wurden oder erst jetzt erreicht werden. Gleichzeitig schwindet die Hoffnung auf Überlebende: „Das Fenster, in dem man realistischerweise davon ausgehen kann, dass Überlebende geborgen werden können, schließt sich leider sehr rasch.“

Die Überlebenschancen für Menschen, die unter eingestürzten Gebäuden gefangen sind, liege bei wenigen bis 48 Stunden, hieß es von Hilfsorganisationen und Expertinnen und Experten. „Die nächsten 24 Stunden sind entscheidend, um Überlebende zu finden. Nach 48 Stunden nimmt die Zahl der Überlebenden enorm ab“, sagte etwa die britische Vulkanologin und Risikoforscherin Cemnen Solana von der Universität von Portsmouth.

Zusätzliche Hürden gibt es für den Hilfseinsatz im Bürgerkriegsland Syrien. Das Land „bleibt in rechtlicher und diplomatischer Hinsicht eine Grauzone“, sagte Marc Schakal, der Leiter des Syrien-Programms von Ärzte ohne Grenzen. Die Hilfe für Syrien sei besonders dringend, da „die Lage der Bevölkerung bereits vor dem Erdbeben dramatisch war“, sagte Raphael Pitti von der französischen Nichtregierungsorganisation Mehad.

Retter in Syrien vermuten, dass noch immer Hunderte Familien unter den Trümmern begraben sind. Die Suche über Nacht sei aufgrund von Sturm und fehlender Ausrüstung nur „sehr langsam“ verlaufen, hieß es von den Weißhelmen, die in den von Rebellen gehaltenen Gebieten Syriens aktiv sind.

Baby aus Trümmern gerettet

Schilderungen von Ärztinnen und Ärzten zufolge seien die Krankenhäuser dort hoffnungslos überfordert. Das gelte teils auch für die von der Regierung kontrollierten Gebiete, etwa für schon die im Bürgerkrieg schwer getroffene Stadt Aleppo.

Syrien: Neugeborenes lebend geborgen

Im Nordwesten Syriens ist ein Neugeborenes aus den Trümmern eines Hauses gerettet worden. Das Mädchen ist die einzige Überlebende ihrer Familie.

Im Nordwesten Syriens wurde indessen aus den Trümmern eines Hauses ein Baby gerettet, das durch die Nabelschnur noch mit seiner durch die Katastrophe umgekommenen Mutter verbunden war. Das neugeborene Mädchen ist die einzige Überlebende ihrer Familie. Sein Vater, seine drei Schwestern, sein Bruder und seine Tante konnten nur noch tot aus den Trümmern geborgen werden. Das Baby wurde in ein Krankenhaus in der nahe gelegenen Stadt Afrin gebracht, sein Zustand ist laut Ärzten stabil.

„Wege total verschneit“

Hatay an der Grenze zu Syrien ist eine der am stärksten von den Erdstößen betroffenen Provinzen der Türkei. Allein dort wurden mehr als 1.200 Gebäude vollkommen zerstört, so Gesundheitsminister Fahrettin Koca. „Die Wege sind völlig verschneit. Es gibt Minusgrade. Und es wird bis Donnerstag immer kälter“, so eine in Hatay lebende Wienerin, der zufolge auch die weitgehend ausgefallene Strom-, Gas- und Wasserversorgung die Lage verschärft.

Das Beben der Stärke 7,8 überraschte die Menschen im Südosten der Türkei und im angrenzenden Syrien in der Nacht auf Montag. Im Laufe des Tages folgten mehrere Nachbeben, eines davon mit einer Stärke von 7,6 nur wenig leichter als der ursprüngliche Erdstoß. Die Erschütterungen waren in mehreren Nachbarländern zu spüren, darunter im Libanon, im Irak sowie in Zypern und Israel. Dazu kommen anhaltende Nachbeben. Über 240 seien bisher registriert worden, teilte die AFAD am Dienstag mit.

Epizentren und Erdbebenstärke gemäß USGS (mmw) vom 6. und 7.2.2023.

Hilfsaufrufe und -zusagen

Zahlreiche Organisationen starteten Hilfsaufrufe, darunter die Caritas, das Rote Kreuz, die Diakonie, Ärzte ohne Grenzen, der Arbeiter-Samariter-Bund, CARE und World Vision. Caritas-Auslandshilfe-Generalsekretär Andreas Knapp sagte, es gehe vor allem um die Deckung der Grundbedürfnisse wie „Erste Hilfe, Nahrungsmittel und Wasser, Decken und Schlafsäcke, psychologische Betreuung und die Koordination von Unterkünften“. Vor allem das von mehreren Krisen gebeutelte Syrien habe das Beben in einer verheerenden Lage erwischt.

Aus zahlreichen Ländern kamen inzwischen Hilfsangebote, erste internationale Rettungsteams sind bereits in den betroffenen Regionen oder auf dem Weg dorthin. Bis das tatsächliche Ausmaß der Folgen der Katastrophe sichtbar wird, dürften zumindest noch Tage vergehen.

Über das Zentrum für Katastrophenhilfe der EU wurden bisher 27 Such- und Rettungsteams mobilisiert. Wie der zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic am Dienstagvormittag mitteilte, entspricht das insgesamt mehr als 1.150 Rettungskräften und 70 Hunden. Lenarcic dankte den hier beteiligten 19 europäischen Staaten. Neben EU-Staaten sind dem EU-Kommissar zufolge auch andere europäische Länder wie Albanien und Montenegro an den von der EU koordinierten Hilfsbemühungen beteiligt.

Der syrische Außenminister Faisal Mekdad forderte am Dienstag die europäischen Staaten auf, sein Land nach dem schweren Erdbeben zu unterstützen und Hilfe zu senden. Die Sanktionen gegen Syrien seien keine Ausrede dafür, das nicht zu tun, sagt er dem libanesischen TV-Sender al-Majadin. Die syrischen Behörden werfen dem Westen bereits länger vor, dass die Sanktionen den Wiederaufbau in dem Bürgerkriegsland behindern. Die USA und die Europäer begründen ihre Strafmaßnahmen damit, dass so Druck auf die syrische Regierung ausgeübt werden soll, in einen politischen Prozess zur Beendigung des Konflikts einzutreten.

Auch der syrische Rote Halbmond rief zur Aufhebung der Sanktionen auf. „Nach diesem Erdbeben ist die Zeit gekommen“, sagte der Leiter der Organisation, Chaled Habubati, am Dienstag. Er appelliere an „alle EU-Länder, die Wirtschaftssanktionen gegen Syrien aufzuheben“, und rufe die US-Entwicklungsbehörde USAID dazu auf, „dem syrischen Volk Hilfe zu leisten“.

Rettungskräfte und Zivilpersonen bei der Rettung eines Überlebenden
APA/AFP/Ozan Kose
Einsatzkräfte bei der Rettung eines Überlebenden in Kahramanmaras

Region mit stetiger Gefahr von Erdbeben

Die Türkei ist immer wieder von schweren Erdbeben betroffen. Dort grenzen zwei der größten Kontinentalplatten aneinander: die afrikanische und die eurasische. Der größte Teil der türkischen Bevölkerung lebt faktisch in ständiger Erdbebengefahr.

Im Jahr 1999 war die Türkei von einer der schwersten Naturkatastrophen in ihrer Geschichte getroffen worden: Ein Beben der Stärke 7,4 in der Region um die nordwestliche Industriestadt Izmit kostete mehr als 17.000 Menschen das Leben. Infolge dieses verheerenden Bebens verabschiedete die türkische Regierung 2004 ein neues Gesetz, das vorschreibt, dass alle Bauten modernen erdbebensicheren Standards entsprechen müssen.