Berlinale
Berlinale/Alexander Janetzko
73. Berlinale

Ein Filmfest als Positionspapier

Dass die Berlinale seit vielen Jahren als politischstes der drei A-Filmfestivals noch vor Cannes und Venedig gilt, hat man in Berlin immer als Kompliment verstanden. Das diesjährige Programm lässt befürchten, dass zwischen politischen Positionen und Selbsterklärungen die Filmkunst zu kurz kommt.

Ein Komponist mit Schreibhemmung (Peter Dinklage), der auf den Rat seiner Ex-Therapeutin und Ehefrau (Anne Hathaway) hin auf die Suche nach Inspiration geht: Als „bezaubernde Komödie über die Liebe in all ihren Formen“ kündigt die Berlinale ihren Eröffnungsfilm „She came to me“ an, eine Mehrgenerationenromanze unter der Regie von Rebecca Miller, in der New York zum Schauplatz prickelnder Begegnungen zu werden verspricht.

Der ganz große Wurf waren Berlinale-Eröffnungsfilme noch selten, aber vielleicht ist es in diesem Jahr anders, auch wenn Miller, die Tochter der österreichischen Fotografin Inge Morath mit Arthur Miller, noch keinen ganz großen Kinoerfolg vorweisen kann. Eine Eröffnung muss aber ohnehin anderes leisten, da sitzt das ganz große Publikum, die Sponsorenvertreterinnen und Politiker, und da wird nicht so gern provoziert. Fast wichtiger sind die Gesichter auf dem roten Teppich, von Hathaway über Dinklage bis zu Marisa Tomei.

Szene aus „She Came to Me“
Protagonist Pictures
„Hallo, kommst du bitte?“ Im Eröffnungsfilm „She came to me“ hofft ein Komponist (Peter Dinklage) auf Inspiration.

Der Jury sitzt in diesem Jahr Kristen Stewart vor, ihr zur Seite stehen etwa die Regisseurin Valeska Grisebach („Western“), die Schauspielerin Golshifteh Farahani, und die Goldener-Bär-Preisträgerin des Vorjahres, die Spanierin Carla Simon („Alcarras“). Der Glamour ist dabei aber, wie so oft in Berlin, auch Aufmerksamkeitsvehikel für politische Anliegen: Im ersten Postpandemiejahr, in dem die Berlinale zu so etwas wie einem Normalbetrieb zurückkehrt – 2022 war das gesamte offizielle Programm auf sechs Tage komprimiert, nur getestetes Publikum war zugelassen – ist der Fokus des gesamten Festivals auf der Politik.

Solidarität und Superkräfte

Das ist zunächst vor allem international gedacht: Solidaritätskundgebungen etwa gegenüber den Kunstschaffenden des Iran, allen voran dem erst kürzlich nach einem Hungerstreik aus der Haft entlassenen Regiestar und Dissidenten Dschafar Panahi, prägen den Festivalablauf. Mit Panahi befasst sich übrigens der indische Dokumentarfilm „And, Towards Happy Alleys“ in der Nebenschiene Panorama – die Verweise quer durchs Festival führen oft zu den reizvollsten Entdeckungen im Programm.

Der zweite weltpolitische Konflikt ist unvermeidlich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Anlässlich des Jahrestags des Angriffs am 24. Februar sind ebenfalls Solidaritätsveranstaltungen geplant. Dass dieser Jahrestag mitten in die Berlinale fällt, prägt das Programm unweigerlich: Einen besonderen Platz im „Berlinale Special“ hat jedenfalls Sean Penns „Superpower“, jener Dokumentarfilm, für den Penn bereits 2021 zu drehen begonnen hatte, als ein Angriff auf Kiew noch in weiter Ferne zu liegen schien.

Glamour im Dienst der Politik

Und so wird die Berlinale kein sorgloses Filmfest, weniger denn je, obwohl sich das Führungsduo Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek ein freudvolles Festival gewünscht hatte. Die größten Stars werden Berlin wie gewohnt für die Glamour-Sektion „Special“ beehren, Helen Mirren etwa für das Golda-Meir-Biopic „Golda“, Ex-Tennisstar Boris Becker kommt für die Doku „Boom Boom Becker“, und Steven Spielberg reist an, um einen Goldenen Bären für sein Lebenswerk entgegenzunehmen und seinen Film „Die Fabelmans“ zu zeigen.

Szene aus „Seneca: On the Creation of Earthquakes “
Stefan Zirwes
Denker im Dienste Neros: „Seneca“ (mit John Malkovich, links) gibt Rätsel auf

Doch auch diese Sektion ist nicht ohne potenzielle Überraschungen, wie Robert Schwentkes „Seneca“-Biopic mit John Malkovich in der Titelrolle. Im Wettbewerb hingegen sind die ganz großen Stars etwas seltener. Hier läuft dafür Margarethe von Trotta mit ihrem österreichisch koproduzierten Drama „Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste“, in dem „Corsage“-Star Vicky Krieps die Schriftstellerin während und nach ihrer toxischen Beziehung zu Max Frisch (Ronald Zehrfeld) spielt.

Emily Atef tritt mit ihrer Verfilmung von Daniela Kriens Wenderoman „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ an, und der ewige Berlinale-Liebling Christian Petzold zeigt mit „Roter Himmel“ den zweiten Teil seiner vor drei Jahren mit „Undine“ begonnenen Trilogie mit mythischen Wurzeln. Ebenfalls im Wettbewerb sind Filme von Philippe Garrel und Christoph Hochhäusler.

Begegnungen der speziellen Art

Die Sektion ist formal vielfältiger als gewohnt, unter den 19 Beiträgen konkurrieren nicht nur der Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert, sondern auch gleich zwei Animationsfilme um den Goldenen Bären: „Art College 1994“ aus China und „Suzume“ des japanischen Regisseurs Makoto Shinkai.

Die 2020 neue etablierte Reihe „Encounters“ hält auch in ihrem vierten Jahr Vielversprechendes bereit, etwa den experimentellen Film „Mon Pire Ennemi“ mit Cannes-Schauspielpreisträgerin Zar Ebrahimi in der Rolle einer Agentin der Islamischen Republik, ein Versuch, die „andere Seite zu verstehen“, wie Regisseur Mehran Tamadon sagt. Für „Le mura di Bergamo“ versuchte Stefano Soldini aufzuzeichnen, wie die Bewohnerinnen und Bewohner von Bergamo mit ihrer Trauer nach den desaströsen ersten Monaten der Pandemie umgingen.

Auch die österreichisch-argentinische Koproduktion „The Klezmer Project“ läuft hier, ein Meta-Filmprojekt von Leandro Koch und Paloma Schachmann, das entlang der Odyssee eines Verliebten auf die osteuropäischen Spuren eines im Holocaust verlorenen Kulturerbes geht.

Noch eine Sisi

Zwei hochinteressante, ebenfalls österreichische Produktionen bzw. Koproduktionen laufen im „Panorama“: Der Dokumentarfilm „Stams“ von Bernhard Braunstein, ein Institutionenporträt des berühmten Wintersportinternats, und Frauke Finsterwalders Film „Sisi & ich“ über die ältere Kaiserin Elisabeth als freiheitshungrige Person.

Eventuelle Ähnlichkeiten mit Marie Kreutzers Film „Corsage“ sind tatsächlich völlig zufällig und unbeabsichtigt: Die Filmemacherinnen erfuhren erst während der Dreharbeiten vom jeweils anderen Projekt. Neun Tage lang läuft die Berlinale ab Donnerstag, die Preise werden am 25. Februar abends vergeben.