Karl Nehammer
Reuters/Johanna Geron
Geld für Grenzschutz

Nehammer sieht „Erfolg“ bei EU-Gipfel

Nach einem stundenlangen Tauziehen haben sich die 27 EU-Staats- und Regierungschefinnen und -chefs auf dem EU-Sondergipfel in Brüssel Freitagfrüh auf umfangreiche EU-Mittel für den Außengrenzschutz verständigt. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) sprach von einem „Erfolg“, wenngleich die von ihm geforderten EU-finanzierten Grenzzäune nicht explizit in der Abschlusserklärung genannt werden.

In dem Dokument heißt es lediglich, dass EU-Mittel für „Infrastruktur“ an den Grenzen mobilisiert werden sollten. Eine indirekte Finanzierung von Grenzzäunen sei aufgrund der Einigung möglich, hielt Nehammer auf Nachfrage kurz nach drei Uhr Früh fest. Nach seinen Worten habe die EU-Kommission „substanzielle“ Unterstützung beim Grenzschutz zugesagt.

Die EU-Spitzen forderten „die Kommission auf, unverzüglich umfangreiche EU-Mittel zu mobilisieren, um die Mitgliedsstaaten beim Ausbau der Grenzschutzkapazitäten und -infrastrukturen, der Überwachungsmittel, einschließlich der Luftüberwachung, und der Ausrüstung zu unterstützen“, wie es in der gemeinsamen Gipfelerklärung hieß.

Für Bulgarien bedeute das etwa konkret, dass es Zusagen für Personalplanung, Fahrzeuge, technische Ausrüstung und Überwachung erhalte, sagte Nehammer. Dadurch würden nationale Budgetmittel frei, die Bulgarien dann wieder in die Verstärkung des Grenzzauns zur Türkei einsetzen könne, so Nehammer. Er hatte für neue EU-finanzierte Zäune an den Außengrenzen geworben und allein zwei Mrd. Euro für den Ausbau der Grenzbefestigung zwischen dem EU-Mitglied Bulgarien und der Türkei verlangt.

Pilotprojekte an Außengrenzen

Es gebe eine Zusage der EU-Kommission für Pilotprojekte in Bulgarien und Rumänien, hielt er fest. Nehammer zufolge würden die Projekte evaluiert und später auf ganz Europa ausgerollt. Zum österreichischen Veto gegen die Schengen-Erweiterung sagte Nehammer, der Außengrenzschutz sei prioritär zu lösen, bevor man über Schengen sprechen könne.

Es sei ein „Erfolg des Bohrens harter Bretter“, dass sogar Luxemburg bereit gewesen sei zuzustimmen, sagte der Kanzler zudem. Luxemburgs Premier Xavier Bettel hatte sich zuvor gegen EU-finanzierte Grenzzäune ausgesprochen. Noch nie sei bei einem Gipfeltreffen „so klar und ehrlich“ über das Thema Migration gesprochen worden, meinte der Bundeskanzler vor Journalistinnen und Journalisten auch.

Zur Finanzierung verwies Nehammer auf das bevorstehende Review des EU-Budgets. „Es gibt jetzt einen neuen Schwerpunkt, der muss weiter entwickelt werden.“ Im EU-Budget gebe es schon Mittel, die für den Außengrenzschutz vorgesehen seien. Es sei vereinbart worden, dass für die Umsetzung der Projekte knapp drei Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden. Nach einer Evaluierung soll überlegt werden, wo weitere Geldmittel lukriert oder umgeschichtet werden.

EU: Mehr Druck auf sichere Herkunftsländer

Konkret einigten sich die Regierungsspitzen auf eine Abschlusserklärung, die darauf abzielt, illegale Einreisen zu verhindern beziehungsweise unattraktiver zu machen. Das soll unter anderem durch einen verstärkten Kampf gegen Schlepper, mehr Grenzschutz und schnellere Abschiebungen geschehen.

Einig sind sich die EU-Staaten darin, dass mehr Druck auf sichere Herkunftsländer gemacht werden sollte, die bei der Rücknahme abgelehnter Asylwerberinnen und -werber nicht kooperieren. Das soll dazu führen, dass mehr Menschen ohne Bleiberecht die EU verlassen und so die teils stark überlasteten Asylsysteme entlastet werden. Druck wollen die EU-Staaten etwa über eine verschärfte Visapolitik, die Handelspolitik und die Entwicklungshilfe machen, zugleich sollen aber auch Möglichkeiten für legale Migration geschaffen werden.

Die Zahl der Asylanträge stieg 2022 im Vergleich zum Vorjahr um fast 50 Prozent auf 924.000. Hinzu kamen rund vier Millionen Geflüchtete aus der Ukraine, die in der EU nicht Asyl beantragen müssen.

Schaidreiter (ORF) zum EU-Gipfel

EU-Korrespondentin Raffaela Schaidreiter berichtet über die aktuelle Migrationsdebatte und weitere Waffenforderungen Selenskyjs beim EU-Gipfel.

Scholz sieht „gute Lösungen“

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte sich bisher gegen Gemeinschaftsmittel für „Stacheldrahtzäune und Mauern“ gesperrt. In Brüssel wird aber vermutet, dass sie ihre Haltung mit Blick auf eine mögliche zweite Amtszeit nach der Europawahl 2024 aufweicht.

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz erinnerte seinerseits an die „aufgeregten Debatten über diese Fragen 2014 und 2015“, als vor dem Hintergrund des syrischen Bürgerkriegs allein eine Million Menschen nach Deutschland kamen. Nun habe die EU „pragmatische, gute, gemeinsame Lösungen“ gefunden, sagte er.

Warnung vor „Festung Europa“

Kritik kam unterdessen von NEOS-Asylsprecherin Stephanie Krisper: „Nur mehr Geld für Infrastruktur wird nicht reichen, das derzeitige europäische Asylsystem funktioniert schlicht nicht – und daran hat die ÖVP einen großen Anteil.“ Monika Vana, Delegationsleiterin der österreichischen Grünen im Europaparlament, warnte, die EU dürfte nicht zur „Festung“ werden: „Wir brauchen ein solidarisches und humanitäres EU-Asyl- und Migrationssystem.“

Der Gipfel beriet zudem über Europas Antwort auf das milliardenschwere US-Subventionspaket für saubere Technologien. Staatliche Industriehilfen in der EU müssten „einfacher, schneller und besser vorhersehbar“ werden, forderten die Staats- und Regierungschefs. Zudem soll von der Leyens Behörde prüfen, wie „verfügbare Mittel und bestehende Finanzierungsinstrumente vollständig mobilisiert“ werden können.

Selenskyj-Besuch überstrahlt Sondergipfel

Überstrahlt wurde der Gipfel vom Besuch des ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Nachdem sich Selenskyj erst mit einer kämpferischen Dankesrede an die Abgeordneten des EU-Parlaments gewandt hatte, sprach er bei dem Treffen der 27 Staats- und Regierungschefs über weitere Waffenlieferungen und die Beitrittsperspektiven der Ukraine.

Von einigen EU-Staaten habe er bereits positive Signale erhalten, sagte er bei einer Pressekonferenz mit EU-Ratschef Michel und Kommissionspräsidentin von der Leyen. Er könne nicht mit leeren Händen nach Hause kommen, machte Selenskyj deutlich. Beim slowakischen Premier Eduard Heger hatte er offenbar Erfolg. Dieser stellte die Lieferung von MiG-29-Flugzeugen in Aussicht.

Gruppenfotos des EU-Gipfels in Brüssel mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj
Reuters/Yves Herman
Selenskyj als „Stargast“ des EU-Sondergipfels

Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte zum Abschluss des Gipfels, er rechne nicht mit Kampfjetlieferungen „in den kommenden Wochen“. Scholz sagte, Kampfjets seien für ihn „kein Gesprächsthema“ gewesen.

Ruf nach Sanktionen gegen Drohnen- und IT-Sektor

Die EU-Staats- und -Regierungschefs rief er zudem zu weiteren Sanktionen gegen Russland auf. Insbesondere Sanktionen gegen die Raketenindustrie, den Drohnen- sowie den IT-Sektor müssten umgesetzt werden, sagte der ukrainische Präsident.

Von der Leyen versprach diesbezüglich, dass die EU neue Russland-Sanktionen gegen „Putins Propagandisten“ ins Visier nehmen würde. Außerdem soll das bereits zehnte Sanktionspaket, an dem die EU derzeit arbeitet, weitere Exportverbote im Volumen von mehr als zehn Mrd. Euro umfassen.

Zurückhaltend zeigte man sich in Brüssel beim Thema EU-Beitritt. Von der Leyen attestierte der Ukraine „beeindruckende“ Fortschritte auf dem Weg zur europäischen Integration. Einen „starren Zeitplan“ gebe es nicht. Die Ukraine will noch heuer mit Verhandlungen über den EU-Beitritt beginnen, darüber müssen jedoch die 27 Mitgliedsstaaten einstimmig entscheiden.

Ursula von der Leyen, Volodymyr Zelenskyy und Charles Michel
AP/Olivier Matthys
Schulter an Schulter: Von der Leyen neben Selenskyj und Michel

Historischer Besuch

Zum Abschluss traf Selenskyj auch den belgischen König Philippe, dem er bei einem Treffen ein Bruchstück eines in der Ukraine abgeschossenen russischen Kampfjets vom Typ Suchoi Su-25 überreichte, wie der Königspalast am Abend auf Twitter mitteilte.

Die Auslandsreise Selenskyjs ist erst die zweite seit dem russischen Einmarsch am 24. Februar vergangenen Jahres. Im Dezember war er nach einem Zwischenstopp in Polen in den USA. Seine aktuelle Reise begann Selenskyj am Mittwoch in Großbritannien, wo er auch Premierminister Rishi Sunak und König Charles III. traf. Am Abend stand in Paris ein Treffen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und dem deutschen Kanzler Scholz auf dem Programm.