Menschen stehen inmitten von Trümmern
Reuters/Emilie Madi
Erdbeben

Trauer weicht der Wut

Im Erdbebengebiet in der Türkei und in Syrien arbeiten Rettungskräfte unermüdlich daran, Überlebende zu bergen. Die Suche wird aber zunehmend schwieriger, zugleich wächst der Unmut der Menschen. Erste Hilfsteams – darunter auch das österreichische Bundesheer – unterbrachen ihre Arbeit, weil es zu Tumulten gekommen sein soll. Die Sicherheitslage wird zunehmend angespannter.

Die Hoffnung, fünf Tage nach dem verheerenden Beben im türkisch-syrischen Grenzgebiet noch Überlebende aus den Trümmern zu retten, schwindet mit jeder Minute. Stattdessen bergen die Rettungskräfte Hunderte Leichen. Über 28.000 Todesopfer wurden bisher gezählt. Der türkische Vizepräsident Fuat Oktay sprach in der Nacht auf Sonntag von 24.617 Toten. Aus Syrien wurden zuletzt 3.574 gemeldet. Knapp 80.300 Verletzte wurden bisher registriert.

Trotz schwindender Hoffnungen gelingt es den Rettungskräften aber auch fünf Tage nach der Katastrophe immer wieder, Menschen lebend aus den Trümmern zu retten. 122 Stunden nach den Erdbeben wurden in der Türkei zwei Frauen gerettet. Vorarlberger Rettungskräften gelang es zudem, ein 15-jähriges Mädchen aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses lebend zu befreien – mehr dazu in vorarlberg.ORF.at.

Bundesheer unterbrach Rettungseinsatz

Im Erdbebengebiet in der türkischen Provinz Hatay ist seit Dienstag auch die Katastropheneinheit des österreichischen Bundesheers im Einsatz. Samstagfrüh mussten die Soldatinnen und Soldaten die Suche nach Verschütteten unterbrechen.

Unter den eingestürzten Gebäuden werden aber noch Tausende Todesopfer vermutet. Aufgrund der zunehmend verzweifelten Situation soll es nun zu Tumulten gekommen sein, weswegen mehrere Rettungskräfte ihren Einsatz zeitweise unterbrochen haben – darunter auch das österreichische Bundesheer. Zwei Hundeführer nahmen mit ihren Tieren die Suche nach Vermissten inzwischen wieder auf.

Rettungsaktionen unter Schutz

„Momentan hat die türkische Armee den Schutz unseres Kontingents übernommen“, sagte Marcel Taschwer, Sprecher des Verteidigungsministeriums. Der Schutz der Türken könne in einem gewissen Bereich gewährleistet werden, so Taschwer. Denn die gefährlichen Rahmenbedingungen an Ort und Stelle hätten sich nicht verändert. Die Situation werde laufend evaluiert. Noch sei nicht abzuschätzen, ob der Rest der Soldaten und Soldatinnen bald wieder eingesetzt werden könnte.

Soldaten in Kahramanmaras
AP/Kamran Jebreili
Die Sicherheitslage im Katastrophengebiet wird zunehmend angespannter

Insgesamt seien sechs Hundeführer mit ihren Vierbeinern in der Türkei. Samstagfrüh musste die Truppe ihre Suche nach verschütteten Menschen im Krisengebiet stoppen. „Der erwartbare Erfolg einer Lebendrettung steht in keinem vertretbaren Verhältnis zu dem Sicherheitsrisiko“, sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis der APA. Auch Deutschland und Ungarn pausierten ihre Einsätze.

„Aggressionen zwischen Gruppierungen“

„Es gibt zunehmend Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei. Es sollen Schüsse gefallen sein“, so Kugelweis. Die österreichische Katastrophenhilfseinheit halte sich nach Informationen des Bundesheeres gemeinsam mit zahlreichen anderen Hilfsorganisationen in einem Basiscamp in der türkischen Provinz Hatay bereit. Seit Dienstag waren 82 Soldaten und Soldatinnen der Austrian Forces Disaster Relief Unit (AFDRU) im Einsatz und bargen bisher neun verschüttete Menschen.

Menschen vor Zelten in türkischer Stadt Gaziantep
Reuters/Irakli Gedenidze
Bei eisigen Temperaturen harren die Überlebenden in Zelten aus

„Wir halten unsere Rettungs- und Bergekräfte weiter bereit. Wir stehen bereit für weitere Einsätze“, so Kugelweis. Auch am Zeitplan – die Rückkehr nach Österreich war für Donnerstag geplant – ändere die aktuelle Situation laut aktuellen Angaben nichts. „Es gab keinen Angriff auf uns Österreicher. Es geht uns allen gut“, so der Oberstleutnant. Die Stimmung unter den Helferinnen und Helfern sei der Situation entsprechend gut. „Wir würden gerne weiterhelfen, aber die Umstände sind, wie sie sind.“

ORF-Korrespondentin Wagner aus dem Bebengebiet

ORF-Korrespondentin Katharina Wagner berichtet aus dem Bebengebiet in der Türkei unter anderem über die Unterbrechung des Bundesheerhilfseinsatzes.

Auch das deutsche Technische Hilfswerk (THW) und die Hilfsorganisation I.S.A.R Germany unterbrachen wegen Sicherheitsbedenken ihre Rettungsarbeiten. In den vergangenen Stunden habe sich nach verschiedenen Informationen die Sicherheitslage in der Region Hatay geändert, teilten die Organisationen mit. Such- und Rettungsteams blieben vorerst im gemeinsamen Basislager in der Stadt Kirikhan. Wenn es einen konkreten Hinweis gebe, dass man jemand lebend retten könne, werde man aber dennoch hinausfahren, sagte die THW-Sprecherin Katharina Garrecht.

Über eine Million obdachlos

Bereits zuvor hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan gesagt, dass in einigen Teilen des Landes der Ausnahmezustand verhängt worden war. Menschen, die Märkte plünderten oder Geschäfte angriffen, sollten so leichter bestraft werden. Allerdings stieg in der Bevölkerung auch Wut und Verzweiflung über die zu langsam angelaufenen Hilfsaktionen der offiziellen Behörden. Es soll zu Aufständen gekommen sein.

Bei den im Mai anstehenden Wahlen könnte das eine entscheidende Rolle spielen, ob sich Erdogan im Amt halten kann. Am Freitag räumte er bei einem Besuch im Katastrophengebiet ein, dass die Hilfe nicht so schnell geleistet worden sei wie gewünscht. Etwa 24,4 Millionen Menschen sind der Türkei zufolge von den Erdbeben betroffen.

Über eine Million Menschen hätten kein Dach mehr über dem Kopf und seien in Notunterkünften untergebracht, sagte der türkische Vizepräsident Fuat Oktay. „Unser Hauptziel ist es, dass sie zu einem normalen Leben zurückkehren können“, sagte er. Dazu sollten innerhalb eines Jahres Wohnungen wieder aufgebaut werden. Hunderttausende Gebäude seien nicht mehr bewohnbar, sagte Erdogan.

Festnahmen nach Gebäudeeinstürzen

Unterdessen wurden am Samstag im Süden der Türkei mindestens 14 Menschen wegen mutmaßlicher Fahrlässigkeit festgenommen. Ein Haftbefehl sei auch gegen 33 Menschen in der Stadt Diyarbakir ergangen, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Strafverfolger.

Sie sollen für etwaige Bauschäden wie das Entfernen von Betonsäulen verantwortlich sein, die den Einsturz der Gebäude begünstigten. Einer der Verdächtigen wurde den Angaben zufolge am Flughafen in Istanbul gefasst. Er soll versucht haben, mit Bargeld nach Montenegro zu fliehen. Neun weitere Verdächtige wurden in den Städten Sanliurfa und Osmaniye verhaftet.

Eingestürzte Häuser in türkischer Stadt Antakya
AP/Hussein Malla
Die immensen Zerstörungen sind auch auf die Dauer des Bebens zurückzuführen

Erdbeben dauerten fast zwei Minuten

Die immensen Zerstörungen sind nach Angaben der türkischen Katastrophenschutzbehörde auch auf die Dauer der Erschütterungen zurückzuführen. Das erste der beiden Erdbeben am Montag habe etwa 65 Sekunden gedauert, das zweite 45 Sekunden, sagte der Chef der Abteilung für Erdbeben und Risikoverminderung in der Katastrophenschutzbehörde AFAD, Orhan Tatar, am Samstag laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu.

Hoffnung auf Überlebende sinkt

Viele Menschen werden nach wie vor unter den Trümmern im Bebengebiet vermisst. Doch die Hoffnung, noch Überlebende zu finden, schwindet.

Montagfrüh hatte ein Beben der Stärke 7,8 das Grenzgebiet erschüttert, gefolgt von einem weiteren Beben der Stärke 7,6 zu Mittag. Seither gab es bis Samstag mehr als 2.000 Nachbeben in der Region, wie AFAD mitteilte. Das betroffene Gebiet erstreckt sich über ein etwa 450 Kilometer breites Gebiet.

Türkei öffnet Grenze zu Armenien

Vielerorts mangelt es an Lebensmitteln, Trinkwasser und funktionierenden Toiletten. Zur besseren Versorgung der Überlebenden öffnete die Türkei einen Grenzübergang zu Armenien – trotz einer tiefen Feindschaft zum Nachbarland, wie Anadolu Ajansi berichtete. Fünf Lastwagen passierten mit humanitärer Hilfe einen Grenzposten in der türkischen Provinz Igdir.

Zuletzt sei das 1988 nach einem Beben in der Ex-Sowjetrepublik Armenien möglich gewesen. Die Landgrenze zwischen der Türkei und Armenien ist seit 1993 geschlossen. Das Verhältnis zwischen Ankara und Eriwan ist sowohl aus historischen Gründen als auch wegen des Konfliktes um die Gebirgsregion Bergkarabach schwer belastet. Die beiden Nachbarn unterhalten aber seit Ende 2021 wieder diplomatische Kontakte.

UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths bezeichnete am Samstag das verheerende Erdbeben als das „schlimmste Ereignis seit 100 Jahren in dieser Region“. Bei einer Pressekonferenz in der türkischen Provinz Kahramanmaras am Samstag lobte Griffiths die Reaktion der Türkei auf die Katastrophe als außergewöhnlich.

Zelte und eingestürzte Wohnhäuser in syrischer Stadt Harim
APA/AFP/Omar Haj Kadour
Menschen, die kein Dach mehr über dem Kopf haben, werden in Notunterkünften untergebracht

Situation in Syrien unklar

Noch sei unklar, ob die Hilfe für Syrien sowohl die von der Regierung als auch die von ihren Gegnern gehaltenen Gebiete erreiche. In der syrischen Stadt Aleppo fanden die Suchteams zuletzt nach Informationen der dpa keine Überlebenden mehr. Aus dem Gebiet dringen nach wie vor nur spärlich Informationen. Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) muss die Hilfe für Syrien deutlich ausgeweitet werden.

Das Welternährungsprogramm der UNO hatte zuvor gewarnt, dass seine Lagerbestände im Nordwesten Syriens zur Neige gingen. 90 Prozent der Bevölkerung sind dort auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen will auch die Hilfsorganisation Jugend Eine Welt ihre Aktivitäten im Krisengebiet verstärken.