Zerstörtes Haus in Maras
Reuters/Emilie Madi
Erdbeben

Dutzende Haftbefehle wegen Baumängeln

Zigtausende Gebäude sind im türkisch-syrischen Bebengebiet eingestürzt. Dass die Erschütterungen so zerstörerisch waren, könnte auch auf menschliches Versagen zurückzuführen sein. Inzwischen wurden Dutzende Haftbefehle wegen Baumängeln erlassen. Die Vereinten Nationen befürchten, dass die Opferzahl noch dramatisch steigen könnte. Bestätigt sind zurzeit mehr als 35.000 Tote.

Die Staatsanwaltschaften hätten auf Anweisung des Justizministeriums in zehn Provinzen, die von den Erdbeben betroffen waren, Abteilungen für die Untersuchung von Verbrechen im Zusammenhang mit den Erdbeben eingerichtet, sagte der türkische Vizepräsident Fuat Oktay am Sonntag. Ermittelt worden seien 131 Menschen, die verantwortlich für Gebäude seien, die zusammengestürzt seien.

Nachdem seit Samstag im Süden der Türkei mindestens 14 Menschen im Gefängnis sitzen, wurde unterdessen ein weiterer Bauunternehmer festgenommen. Er habe sich mit einer großen Menge Bargeld nach Georgien absetzen wollen, berichtete die Nachrichtenagentur DHA am Sonntag. Die Verhafteten sollen für Baumängel verantwortlich sein, die die Einstürze der Gebäude begünstigten. Gegen 113 weitere sei ein Haftbefehl erlassen worden.

Trümmer in Iskenderun
Reuters/Benoit Tessier
Menschliches Versagen könnte die Katastrophe verschlimmert haben

Nach Angaben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan suchen inzwischen mehr als 1,5 Millionen in Zelten, Hotels oder öffentlichen Notunterkünften Schutz. Der türkische Städteminister Murat Kurum sagte, mittlerweile seien knapp 172.000 Gebäude in zehn Provinzen überprüft worden. Festgestellt worden sei, dass rund 25.000 schwer beschädigt worden seien oder dringend abgerissen werden müssten. Es werden weitere Verhaftungen erwartet.

Dutzende Haftbefehle wegen Baumängeln

Zigtausende Gebäude sind im türkisch-syrischen Bebengebiet eingestürzt. Dass die Erschütterungen so zerstörerisch waren, könnte auch auf menschliches Versagen zurückzuführen sein. Inzwischen wurden Dutzende Haftbefehle wegen Baumängel erlassen.

Korruption und Nachlässigkeit der Behörden

Von vielen wird die Aktion auch als Versuch angesehen, von der Gesamtschuld an der Katastrophe abzulenken, berichtete die BBC am Sonntag. Die Opposition sieht Präsident Erdogan in der Verantwortung und wirft ihm vor, es in seiner 20-jährigen Regierungszeit versäumt zu haben, das Land auf ein solches Beben vorzubereiten. Bei den im Mai anstehenden Wahlen könnte die Katastrophe eine entscheidende Rolle dabei spielen, ob er sich im Amt halten kann.

Nach dem großen Erdbeben von 1999 in der Türkei mit knapp 18.000 Toten hatte die Regierung die Baugesetze zwar verschärft, seit Jahren warnen Expertinnen und Experten aber vor Versäumnissen der Behörden. Viele alte Gebäude seien trotz entsprechender Regularien nicht erdbebensicher saniert worden, kritisierte unlängst Nusret Suna von der Bauingenieurskammer. Selbst Gebäude, die nach 1999 gebaut wurden, seien oft nicht sicher. Korruption und die Nachlässigkeit der Behörden hätten das begünstigt. Häufig sei ein Auge zugedrückt worden, um einen Bauboom zu fördern – auch in erdbebengefährdeten Regionen.

Oya Özarslan von der Organisation Transparency International in der Türkei, die sich mit Korruption beschäftigt, schilderte ähnliche Probleme. Und der ehemalige Vorsitzende der Bauingenieurskammer, Cemal Gökce, erzählte von der gängigen Praxis: „Ein Grundproblem in der Türkei ist, dass auf vorschriftsmäßig gebaute Gebäude illegale Stockwerke gesetzt werden, ohne auf Vorschriften zu achten.“ Diese Probleme seien aber nicht erst unter Erdogan aufgetreten, so Gökce.

Türkei-Korrespondentin Katharina Wagner zu laufenden Ermittlungen

In der Türkei wurden jetzt Baumeister und Unternehmer verhaftet. Haben weder Wirtschaft noch Politik aus früheren Katastrophen wie etwa 1999 etwas gelernt? Katharina Wagner berichtet über die laufenden Ermittlungen

UNO befürchtet drastischen Anstieg der Totenzahl

Am Montag in der Früh hatte zunächst ein Beben der Stärke 7,8 das türkisch-syrische Grenzgebiet erschüttert, bevor zu Mittag ein weiteres Beben der Stärke 7,6 folgte. Nach Angaben der türkischen Behörden waren die Beben mit 65 und 45 Sekunden ungewöhnlich lang und deshalb so zerstörerisch. Seither gab es mehr als 2.000 Nachbeben in der Region, wie die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD mitteilte. Das betroffene Gebiet erstreckt sich über etwa 450 Kilometer.

Wettlauf mit der Zeit nach Erdbeben

Über 28.000 Tote sind fast eine Woche nach dem Erdbeben an der türkisch-syrischen Grenze bereits offiziell gemeldet worden. Laut UNO könnten sich die Zahlen vor allem in Syrien noch mehr als verdoppeln. Die Einsatzkräfte arbeiten weiter im Wettlauf gegen die Zeit.

Die Zahl der bestätigten Todesopfer stieg unterdessen auf mehr als 35.000 an. In der Türkei wurden nach Behördenangaben bis Sonntag 29.605 Todesopfer geborgen. Unkar ist die Zahl der Opfer in Syrien: Nach Informationen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind in den Rebellengebieten im Nordwesten mindestens 4.500 Menschen ums Leben gekommen, in Regionen unter Regierungskontrolle etwa 1.400.

Schätzungen der UNO zufolge wird die Zahl der Todesopfer möglicherweise noch auf mehr als 50.000 ansteigen. UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte bei einem Besuch im Erdbebengebiet in der Türkei dem Sender Sky News, die Opferzahl werde sich noch „verdoppeln oder mehr“.

26 Millionen Betroffene

Die WHO geht davon aus, dass 26 Millionen Menschen in der Türkei und Syrien von der Katastrophe betroffen sein könnten, darunter etwa fünf Millionen Menschen, die ohnehin als besonders schutzbedürftig gelten. Mindestens 870.000 Menschen in beiden Ländern müssen nach Angaben der UNO mit warmen Mahlzeiten versorgt werden, bis zu 5,3 Millionen Menschen könnten allein in Syrien obdachlos geworden sein.

Laut AFAD sind mehr als 32.000 Menschen aus der Türkei an Such- und Rettungseinsätzen beteiligt. Hinzu kommen mehr als 8.200 internationale Helferinnen und Helfer – auch aus Österreich. Trotz schwindender Hoffnungen gelingt es den Rettungskräften aber auch fast eine Woche nach der Katastrophe immer wieder, Menschen lebend aus den Trümmern zu retten.

Trümmer in Kahramanmaras
Reuters/Stoyan Nenov
Trotz schwindender Hoffnung wird die Suche nach Überlebenden fortgesetzt

Überlebende nach fast einer Woche gerettet

In der Provinz Hatay wurden eine schwangere Frau und ihr Bruder nach 140 Stunden sowie ein sieben Monate altes Baby von Rettungsteams aus den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes gezogen, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi berichtete. In der türkischen Stadt Kahramanmaras wurde ein 26-Jähriger aus den Trümmern eines elfstöckigen Gebäudes gerettet.

In Antakya sei ein fünf Monate altes Baby nach 134 Stunden lebend aus den Trümmern geholt worden, berichtete der staatliche türkische Fernsehsender TRT. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie ein Helfer kopfüber in ein metertiefes Loch hinabgelassen wurde, um zu dem Säugling zu gelangen. Das sichtlich entkräftete Kind wurde nach seiner Befreiung an Rettungssanitäter übergeben.

In Antakya wurde laut einer Meldung von Anadolu Ajansi zudem ein sechsjähriger Bub gerettet, der 137 Stunden lang unter Schutt begraben war. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht. In Iskenderun bargen laut Ajansi Hilfskräfte einen 44-jährigen Mann nach 138 Stunden aus den Trümmern.

Sicherheitslage behindert Helfer

Seit Montag mangelt es vielerorts weiter an Lebensmitteln, Trinkwasser und funktionierenden Toiletten. Erdogan sagte, dass in einigen Teilen des Landes der Ausnahmezustand verhängt worden sei. Menschen, die Märkte plünderten oder Geschäfte angriffen, sollten so leichter bestraft werden können. Allerdings stieg in der Bevölkerung auch Wut und Verzweiflung über die zu langsam angelaufenen Hilfsaktionen der offiziellen Behörden. Es soll zu Tumulten gekommen sein.

Soldaten in Kahramanmaras
AP/Kamran Jebreili
Die Sicherheitslage im Katastrophengebiet wird zunehmend angespannter

Deswegen mussten mehrere Rettungskräfte ihren Einsatz zeitweise unterbrechen – darunter auch das österreichische Bundesheer. „Es gibt zunehmend Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei. Es sollen Schüsse gefallen sein“, sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis der APA. „Momentan hat die türkische Armee den Schutz unseres Kontingents übernommen“, so Marcel Taschwer, Sprecher des Verteidigungsministeriums.

UNO: „Menschen in Syrien im Stich gelassen“

Die UNO räumte unterdessen Versäumnisse bei der Hilfe für die Opfer im syrischen Bebengebiet ein. „Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen“, schrieb Griffiths am Sonntag auf Twitter. Diese Menschen hätten das Gefühl, man habe sie aufgegeben. „Sie halten Ausschau nach internationaler Hilfe, die nicht eingetroffen ist.“ Es sei seine Pflicht, diese Fehler so schnell wie möglich korrigieren zu lassen.

Der Nordwesten Syriens, der von den Erdbeben besonders stark getroffen wurde, wird von verschiedenen Rebellengruppen kontrolliert. Derzeit gibt es nur einen Grenzübergang (Bab al-Hawa), über den die UNO Hilfe in Gebiete liefern kann, die nicht von der Regierung kontrolliert werden. Die syrische Regierung will humanitäre Hilfe komplett durch die von ihr kontrollierten Gebiete fließen lassen.

Nach wie vor dringen aber nur spärlich Informationen nach außen. In sozialen Netzwerken machten über das Wochenende Fotos von Aktivisten die Runde, die über der stark betroffenen Kleinstadt Dschindiris die blaue UNO-Flagge kopfüber hissten. Familien der Opfer würden die UNO damit symbolisch verurteilen, weil diese keine Hilfe für die Verschütteten möglich gemacht hätte, schrieb der bekannte syrische Oppositionelle Usama Abu Said.

Gefahr von Krankheiten

In den betroffenen Gebieten wächst nun auch die Gefahr von Krankheiten. Laut dem Experten des Emergency WASH (Wasser Sanitär Hygiene) des Österreichischen Roten Kreuzes, Georg Ecker, ist das Wasserversorgungs- und Entsorgungssystem im Erdbebengebiet schwer beeinträchtigt. Daher sind die Menschen von Oberflächenwasser – wie Flüssen und Seen – abhängig, die wiederum durch Fäkalien verunreinigt sind, weil die Menschen aufgrund der zerstörten Gebäude keine Sanitäreinrichtungen haben.

Zudem könnten Grundwassersysteme verschoben oder unterbrochen sein, so Ecker. Es bestehe daher auch die Gefahr der Kontamination von Grundwasser. Wenn Menschen keine Alternative haben, als verunreinigtes Wasser zu trinken, könne das rasch zu Krankheiten führen. In Syrien gebe es seit längerer Zeit immer wieder Choleraausbrüche, und dadurch könne es sein, dass sich die Situation aufgrund der schlechten Hygieneverhältnisse verschlechtert bzw. bestehe aufgrund des Grenzgebietes ein Risiko, dass die Cholera auch in die Türkei übersetzt.