Person mit Schaufel in Schützengraben
IMAGO/ZUMA Wire/Celestino Arce Lavin
Front in Ukraine

Zweifel an russischer Schlagkraft

Die lange erwartete russische Offensive im Osten der Ukraine ist in vollem Gange, darüber sind sich Fachleute einig. Berichtet wird beidseitig von intensiven Kämpfen insbesondere an der Front in der Region Donezk – die Darstellungen hinsichtlich des Erfolgs sind laut Angreifern und Verteidigern unterschiedlich. Doch mehren sich aus Sicht von Fachleuten zuletzt die Indizien, die an der derzeitigen Schlagkraft der Russen bei umfassenden Bodenangriffen zweifeln lassen.

Berichte ukrainischer und westlicher Beamter, ukrainischer Soldaten, gefangener russischer Soldaten und russischer Militärblogger zeichnen weitgehend das Bild eines stockenden russischen Feldzugs. In einem sind sich die Beobachter einig: Die Verluste sind wohl sehr hoch – und das auf beiden Seiten. Ukrainische und russische Angaben dazu sind freilich stets nicht prüfbar.

Als Sinnbild für Defizite der russischen Angreifer wurde ein zuletzt schwerer Rückschlag in der Schlacht um Wuhledar gesehen: Seit gut drei Wochen versuchen russische Einheiten, die Front bei dem Ort in der Oblast Donezk weiter in ukrainisches Gebiet zu verschieben – doch vergebens. Und nicht nur das, denn darüber hinaus wurden erhebliche Verluste der russischen Seite bekannt. Die Ukraine will das mit einer Kombination aus Panzerminen und Artillerie erreicht haben.

Kiew hält russische Verluste in Wuhledar für hoch

Ukrainischen Angaben zufolge wurden zwei der russischen Elitebrigaden – die 155. und die 40. Marineinfanteriebrigade – dezimiert und der Rest in die Flucht geschlagen. Nach Schätzungen des ukrainischen Generalstabs hat Russland allein in einer Woche bei den Kämpfen in Wuhledar mindestens 130 gepanzerte Fahrzeuge verloren, darunter 36 Panzer. Aus Großbritannien hieß es, dass Moskau „in zwei Tagen über 1.000 Menschen verloren“ habe.

Die Stadt Vuhledar
AP/Libkos
Der Blick auf Wuhledar und den Umkreis zeigt, wie schwer die Zerstörungen infolge der intensiven Kampfhandlungen sind

Der britische Geheimdienst hatte von „wahrscheinlich besonders schweren Verlusten in der Gegend von Wuhledar“ berichtet. All diese Einschätzungen werden durch Drohnenaufnahmen gestützt, die von unabhängigen Militäranalysten ausgewertet wurden, sowie durch Berichte russischer Militärblogger, die den Krieg zwar uneingeschränkt befürworten, aber an der Kriegsführung der russischen Befehlshaber scharfe Kritik üben.

Ukraine verschoss große Mengen an Munition

Die anhaltenden Kämpfe an diesem Frontabschnitt haben auch den ukrainischen Verbänden hohe Verluste gebracht: neben gefallenen Soldaten auch sehr große Mengen an Munition zur Abwehr der steigenden Zahl russischer Bodentruppen. Zuletzt hatte Moskau Zehntausende neue Truppen in Richtung Front geschickt – so etwa auch nach Bachmut.

Beschädigte Gebäude in Wuhledar
Reuters/72nd Separate Mechanized Brigade Via Facebook
Wuhledar in der Oblast Donezk ist schwer zerstört – die Stadt galt als ein Stützpunkt für Aktionen zur Störung russischer Nachschublinien

Weder Kiew noch Moskau teilen mit, wie viele Soldaten sie dort verloren haben, beide Seiten bezeichnen jedoch die seit Monaten laufende Schlacht um Bachmut als die verlustreichste des Krieges. In der völlig zerstörten Stadt in der Oblast Donezk, die einst für ihren Sekt und ihre Salzminen bekannt war, harren noch etwa 6.500 der ursprünglich 70.000 Einwohnerinnen und Einwohner aus. Bilder und Videos aus der Stadt zeigen völlig zerstörte Häuserreihen, zudem ist der gesamte Landstrich um die Stadt von den Kampfhandlungen gezeichnet.

„Sehr große Abnutzungsschlacht“ um Bachmut

Fortschritt verzeichnen die russischen Angreifer bisher auch hier nicht, wenngleich sich Fachleute einig sind, dass ein solcher aus militärischer Sicht völlig unbedeutsam wäre. Stattdessen solle Bachmut als Symbol hochgehalten werden, das aus Sicht der russischen Armee als Sinnbild für den militärischen Erfolg stehen soll. Insbesondere zum Jahrestag der russischen Invasion am 24. Februar gelten derartige Erfolge für die russische Führung unter Wladimir Putin als wichtig.

US-Generalstabschef Mark Milley bezeichnete den Kampf um die Region Bachmut zuletzt als „eine sehr große Abnutzungsschlacht mit sehr hohen Verlusten, insbesondere auf russischer Seite“. Es gebe viel Gewalt und viele Gefechte, aber die Front sei ziemlich stabil, meinte der hohe US-Beamte. Moskau will nach vielen Rückschlägen seinen ersten bedeutenden Sieg erringen, Kiew gibt sich entschlossen, die Stellung zu halten.

Blick auf die Stadt Bachmut
Reuters
Der Kampf um Bachmut läuft bereits den ganzen Winter, für die Russen ist er mit symbolischer Bedeutung aufgeladen

„Klassisches Problem wie im Ersten Weltkrieg“

Obwohl der Kampf um Bachmut lediglich von russischer Seite symbolisch hochhalten wird, haben zuletzt auch die Ukrainer ihre Truppen dort verstärkt. Eine Erklärung lieferte zuletzt Mark Cancian von der US-Denkfabrik Center for Strategic and International Studies (CSIS): „Das ist ein klassisches Problem wie im Ersten Weltkrieg. Wenn die Russen dort angreifen, haben die Ukrainer keine andere Wahl, als die Stadt zu verteidigen.“ Und das, obwohl ein Sieg „in militärischer und strategischer Hinsicht nichts bedeuten würde“.

Wagner-Chef Prigoschin: „Militärbürokratie“ schuld

Eine Erklärung, wieso die russischen Angreifer in Bachmut keine nennenswerten Fortschritte erzielen können, liefert aktuell der Chef der paramilitärischen Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin: Grund für das langsame Vorankommen seien bürokratische Hemmnisse. „Ich denke, wir hätten Bachmut eingenommen, wenn es nicht diese monströse Militärbürokratie gäbe und wenn man uns nicht jeden Tag Steine in den Weg legen würde“, sagte Prigoschin in einem Video. Bachmut werde wohl erst im „März oder April“ erobert werden können.

Grafik zum Frontverlauf iim Ukraine-Krieg
Grafik: APA/ORF; Quelle: ISW/Le Monde

Auch die schweren Verluste in Wuhledar wurden von Wagner schwer kritisiert: in einem Telegram-Kanal, der mit der Söldnergruppe in Verbindung steht, wurde das Vorgehen der russischen Armee in Wuhledar scharf kritisiert. Auch wurde die Forderung erhoben, dass die für die Verluste verantwortlichen russischen Kommandeure in öffentlichen Prozessen zur Rechenschaft gezogen werden sollen. „Straflosigkeit führt immer zu Nachgiebigkeit“, hieß es etwa in einem Beitrag.

Überwiegende Zahl der russischen Verbände in Ukraine

Während für Prigoschins Aussagen wohl die Rivalität zum russischen Militär ursächlich ist (Wagner erachtet sich als weit durchschlagskräftiger als die Armee), stellt sich der personelle Einsatz der russischen Angreifer jedenfalls als groß dar: So wird im Westen die Einschätzung vertreten, dass mittlerweile ein großer Teil der russischen Armee in der Ukraine kämpft, was wiederum weitere Zweifel an Russlands Offensivfähigkeiten aufkommen lässt. Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace gab jüngst an, dass sich „97 Prozent der russischen Armee“ in der Ukraine befänden, ohne das jedoch näher zu erläutern oder Beweise für diese Einschätzung zu nennen.

Nach Schätzungen von US-Militärs sind etwa 80 Prozent der russischen Bodentruppen in den Kriegsanstrengungen engagiert, auch der US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) konnte die britischen Angaben nicht bestätigen, wie es hieß. Doch schrieb das ISW zuletzt von „erheblich erschöpften Reserven“. Gesichert scheint jedenfalls, dass der Kreml in den letzten Wochen Zehntausende Soldaten an die Front geschickt hat – darunter viele unerfahrene Kräfte.

„Menschliche Wellen“ in Luhansk?

Armee und die Gruppe Wagner wollten verstärkt auch Häftlinge als „Kanonenfutter“ einsetzen und diese in Truppen der selbst ernannten „Volksrepublik Luhansk“ („LNR“) im Osten der Ukraine integriert haben. Eine Rekrutierung von Sträflingen sei ein Anzeichen, dass der Kreml „menschliche Wellen“ planen könnte, gab das ISW jüngst an. Damit ist jene Taktik gemeint, bei der eine große Zahl von Soldaten – häufig mit geringer Ausbildung – für einen Angriff eingesetzt wird.

Sowohl der ukrainische Geheimdienst als auch der US-Sender CNN hatten zuvor über eine Rekrutierung von Häftlingen durch das russische Verteidigungsministerium berichtet. Auch zeigt dieses Vorgehen nach Einschätzung der US-Analysten, dass das russische Militär seine konventionellen Einheiten für die Sträflinge nicht umstrukturieren will. Man wolle möglicherweise vermeiden, die Moral der Einheiten durch die Häftlinge noch weiter zu schwächen, hieß es.

Kiew: Neue russische Truppen nach Luhansk

Ukrainischen Angaben zufolge verstärkte Russland seine Streitkräfte in der Region Luhansk. Dazu verlege die Führung in Moskau schweres Gerät und neue Truppen dorthin, teilte der ukrainische Gouverneur der Region, Serhij Hajdaj, mit. Es gebe viel Beschuss, auch aus der Luft. „Die Angriffe kommen in Wellen aus verschiedenen Richtungen.“

Zuvor hatte Russland mitgeteilt, dass seine Truppen zwei befestigte ukrainische Verteidigungslinien in Luhansk durchbrochen und sich die ukrainischen Streitkräfte zurückgezogen hätten – die Ukraine dementierte das.

GB: Russland ist sich militärischer Schwäche bewusst

Und während Russland zunehmend Kräfte an die Front zieht, ist sich die russische Führung nach Einschätzung der britischen Geheimdienste mutmaßlich der zunehmenden Rüstungsprobleme bewusst. Diese sei sich wohl darüber im Klaren, dass die Produktion der russischen Rüstungsindustrie sich zu einer entscheidenden Schwäche entwickle, hieß es am Mittwoch im täglichen Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums.

Zusätzlich belastet werde diese Achillesferse durch strategische Fehleinschätzungen bei der Invasion. Die russische Produktion bleibe höchstwahrscheinlich hinter den Erwartungen der Führung mit Blick auf den benötigten Nachschub für den Angriffskrieg und langfristige Ziele zurück. Ungeachtet dessen feuert Russland weiter Raketen und Marschflugkörper auf die Ukraine ab – in der Nacht auf Donnerstag waren es Dutzende.