Zerstörte Häuser nach dem schweren Erdbeben in der Türkei
Reuters/Suhaib Salem
Türkei

Warnung vor starken Nachbeben

Auch rund zwei Wochen nach dem verheerenden Beben kommt die Erde im türkisch-syrischen Katastrophengebiet nicht zur Ruhe. Der türkische Katastrophenschutz (AFAD) warnte am Freitag vielmehr vor weiteren starken Nachbeben. Vielerorts wird Betroffenen auch weiterhin von einer Rückkehr in ihre Häuser abgeraten. Weiter gestiegen sind die Opferzahlen: Mittlerweile sind mehr als 45.000 Tote bestätigt.

Allein in der Türkei seien aktuellen Regierungsangaben zufolge mehr als 84.000 Gebäude entweder eingestürzt oder stark beschädigt. 224.923 Wohnungen sind den Regierungsangaben zufolge zerstört, stark beschädigt oder abrissreif. Diese Zahl könne auch wegen weiterhin befürchteter Nachbeben noch deutlich steigen. AFAD-Angaben zufolge wurden bisher mehr als 4.700 Nachbeben gezählt, rund 40 davon mit einer Stärke von über vier auf der Mercalliskala.

Eine Entwarnung gibt es nach wie vor nicht: Ganz im Gegenteil warnte der bei AFAD für Risikominimierung zuständige Orhan Tatar am Freitag vor weiteren Beben mit einer Stärke von teils über Stärke fünf. Das sei „eine sehr außergewöhnliche Situation“, wie Tatar dazu anführte.

Panik in Latakia

Die Nachbeben sorgen immer wieder für Panik unter der ohnehin schwer getroffenen Bevölkerung. Erst am Donnerstag strömten Menschen im syrischen Latakia nach einem Beben der Stärke 4,7 panisch aus ihren Häusern. Ein Gebäude sei am Donnerstag nach den neuerlichen Erdstößen eingestürzt, berichtete ein Reporter der dpa an Ort und Stelle. Die Küstenstadt wurde bereits vom ersten schweren Beben stark getroffen. 140.000 Menschen haben laut offiziellen Angaben in der von der syrischen Regierung kontrollierten Provinz ihr Zuhause verloren.

Ein Suchhund im Einsatz nach dem Erdbeben in Syrien in der Provinz Latakia
APA/AFP/Karim Sahib
140.000 Menschen haben in Latakia ihr Zuhause verloren

Nach 278 Stunden lebend aus Trümmern geborgen

Am Montag vor gut einer Woche hatte ein erstes Beben der Stärke 7,8 um 2.17 Uhr (MEZ) die Südosttürkei erschüttert, Stunden später folgte ein zweites schweres Beben der Stärke 7,6. Noch immer gehen spektakuläre Berichte über späte Rettungen von Verschütteten um die Welt.

In der Stadt Antakya befreiten Einsatzkräfte der Feuerwehr aus Istanbul eigenen Angaben zufolge einen 13-jährigen Verschütteten nach 228 Stunden. Auf einem Video ist zu sehen, wie Mustafa auf einer Trage aus den Trümmern gebracht wird. 248 Stunden nach dem Erdbeben wurde nach Angaben von türkischen Einsatzkräften in Kahramanmaras eine 17-Jährige gerettet. In der Provinz Hatay sei nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu ein Mann nach rund 278 Stunden lebend aus den Trümmern geborgen worden.

In den sozialen Netzwerken teilen inzwischen viele Menschen Suchanzeigen in der Hoffnung, ihre Angehörigen in Krankenhäusern wiederzufinden. Mehr als 13.000 Verletzte werden noch in Krankenhäusern behandelt, sind aber teilweise nicht identifizierbar, wie ein Krankenhausmitarbeiter in Adana sagte. Vielerorts wurde auch die Infrastruktur zur Krankenversorgung stark beschädigt.

Zerstörtes Haus in Kahramanmaras
Reuters/Nir Elias
Laut türkischen Regierungsangaben sind rund 225.000 Wohnung zerstört, stark beschädigt oder abrissreif

Über 39.000 Tote in Türkei

Weiter stark steigend bleibt die Zahl der aus den Trümmern geborgenen Toten. Laut AFAD gibt es in der Türkei 39.672 betätigte Tote. Aus Syrien meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zuletzt 5.900 Tote. Dazu kommt auch eine sich für viele Überlebende verschlimmernde Lage: In der Türkei gibt es mancherorts wegen der Zerstörung bereits kein Trinkwasser mehr, wie der Chef der Ärztekammer (TTB) im südtürkischen Adana, Selahattin Mentes, laut dpa sagte. Betroffen sei etwa der Bezirk Nurdag in Gaziantep.

Anderswo könne das Leitungswasser womöglich durch Vermischung mit der Kanalisation verseucht sein. „Wir brauchen dringend Zugang zu sauberem Trinkwasser in der Region und müssen Hygiene herstellen. Außerdem muss der Müll entsorgt werden.“ Andernfalls drohten Infektionskrankheiten wie Cholera. Den TTB-Angaben zufolge fehlen in der Region Chlortabletten, mobile Toiletten, Reinigungsmittel und Impfungen gegen Tetanus und Diphtherie. Der Bedarf an Lebensmitteln sei dagegen zurzeit gedeckt.

1,6 Millionen Menschen in Notunterkünften

Laut dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sind derzeit 1,6 Millionen Menschen in Notunterkünften untergebracht und 600.000 Menschen aus der Region evakuiert worden. Vielerorts fehlen temporäre Unterkünfte. In der Stadt Kirikhan und andernorts etwa bauen sich Menschen Behelfszelte und Öfen aus Materialien, die sie in den Trümmern finden. Die türkische Regierung erhöhte zudem die Zahl der von der Erdbebenkatastrophe betroffenen Provinzen von zehn auf elf. Auch die osttürkische Provinz Elazig gelte auf Anweisung des Präsidenten nun offiziell als Katastrophengebiet.

Stadium mit provisorischen Unterkünften in türkischer Stadt Kahramanmaras
IMAGO/Depo Photos/Cem Bakirci
Rund 1,6 Millionen Türkinnen und Türken leben in Notunterkünften

Arabische Medien berichteten unterdessen, dass viele Syrerinnen und Syrer die Türkei verlassen. Fast 1.800 Menschen seien in ihre Heimat zurückgekehrt. Insgesamt waren in den vergangenen Jahren rund 3,6 Millionen Menschen vor Bomben und Gewalt ins Nachbarland geflüchtet. Nach den Beben wollen aber viele wieder bei ihren Familien sein, obwohl die Kriegsgefahr längst noch nicht gebannt ist.

Beben „hat syrischer Bevölkerung Rücken gebrochen“

Syriens Präsident Baschar al-Assad ließ derweil in einer zynischen Fernsehansprache verlauten, die Folgen des seit 2011 geführten Bürgerkrieges hätten die Bevölkerung auf die Erdbeben vorbereitet. „Der Krieg, der Ressourcen erschöpfte und Fähigkeiten schwächte, hat der syrischen Gesellschaft die Erfahrung gegeben, um mit dem Erdbeben umzugehen.“

Aus Sicht des Roten Kreuzes habe die Bebenkatastrophe den Betroffenen in Syrien nach einer ohnehin jahrelangen Krise im Bürgerkrieg wohl vielmehr die letzten Kräfte geraubt. „Sie hat der syrischen Bevölkerung wirklich den Rücken gebrochen. Ich habe von vielen Leuten gehört, dass ihr Geist gebrochen ist“, so der Generalsekretär der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften (IFRC), Jagan Chapagain, dem zufolge es sich um eine „Krise nach einer Krise“ handle.

Erstmals seit dem schweren Beben werden aus Syrien schließlich wieder neue Gefechte gemeldet. Wie die in London sitzende Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete, nahmen syrische Regierungstruppen Vororte der Stadt Atareb unter Beschuss, die von den Rebellen gehalten wird. Zusammenstöße gebe es auch Saraqeb und in der Provinz Hama. In der vom Beben stark betroffenen Region laufe nach Angaben von Hilfsorganisationen die Bebenhilfe weiter nur sehr schleppend an.